Claudius Homolka

Die Gesetzmäßigkeiten von Selbstbildungsprozessen als Qualitätsmerkmale in der Architektur?

Selbstbildung und Architektur - zwei Begriffe, die sich zu widersprechen scheinen.

Während das Wort Selbstbildung auf eine Gestaltwerdung von "selbst", d.h. ohne Einfluß des Menschen, hindeutet, weist das Wort Architektur - von seiner griechischen Wurzel 'architekton' (Baumeister) her - auf die gestaltende Rolle des Menschen hin. Selbstbildung bezeichnet dabei eine bestimmte Art eines Prozesses, Architektur bezieht sich dagegen sowohl auf einen Prozeß als auf ein Ergebnis.

Einige Architekturhistoriker des 19. Jahrhunderts haben bei der Beschreibung historischer Bauwerke Anforderungen an die Qualität von Architektur formuliert, die den architektonischen Gestaltungsprozeß gegenüber dem architektonischen Ergebnis sehr stark hervorheben. Ihre Forderungen an diesen Prozeß enthalten Merkmale, die Analogien zu Merkmalen bei Selbstbildungsprozessen aufweisen und die man deshalb als Forderungen einer Nachahmung solcher Prozesse in der Architektur interpretieren könnte. Dieser Interpretationsversuch steht in Verbindung mit einer Aussage August Wilhelm Schlegels, wonach die Architektur nicht in einzelnen Gegenständen die Natur nachahme, sondern in ihrer allgemeinen Methode.(1)

In meinem Vortrag will ich diese Forderungen darstellen und untersuchen, inwieweit eine solche Interpretation zulässig ist.

Unsere Umwelt ist in allen ihren Erscheinungsformen das Ergebnis von Bildungsprozessen. Bildungsprozesse ereignen sich, wenn voneinander unabhängige Teile oder Systeme in Beziehung zueinander treten und aus ihrem Zusammenwirken ein neues Ganzes, oder in anderen Worten, ein System höherer Komplexität entsteht. Daraus kann man ableiten, daß alle Dinge in unserer Umwelt (auch hier läßt sich wieder das Wort Systeme einsetzen) aus einer irgendwie gearteten Beziehung von Teilen geringerer Komplexität hervorgegangen sind. Ein Wald zum Beispiel entsteht aus der Konkurrenzbeziehung zwischen Bäumen, Sträuchern, Gräsern etc. oder ein Fahrzeug aus der funktionalen Beziehung von Rahmen, Antrieb, Lenkung, Bremsen usw.

Grundsätzlich kann man zwischen solchen Systemen unterscheiden, die vom Menschen geplant werden - dazu gehört auch die Architektur - und solchen, die aus Selbstbildungsprozessen hervorgegangen sind. Man nennt letztere auch natürliche Systeme. Beiden gemeinsam ist zunächst einmal das Systemprinzip, also die hierarchische Gliederung in Ebenen zu- bzw. abnehmender Komplexität. In Richtung zunehmender Komplexität sind die Ebenen durch Bildungsprozesse, in Richtung abnehmender Komplexität durch Rückkopplung verbunden. Die einzelnen Pflanzen, die in ihrer Gesamtheit den Wald bilden, werden ihrerseits durch das Gesamtsystem Wald mit seinem Feuchtigkeitsspeicher, seinem Windschutz, seiner Lichtverteilung usw. in ihrem Wachstumsverhalten beeinflußt. Systembildung und Rückkopplung auf Untersysteme sind also eng miteinander verknüpft.

Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen geplanten und natürlichen Systemen ist ihre Unterwerfung unter die Regeln allgemeiner Naturgesetze. Ein Fahrzeug unterliegt ebenso dem Gravitationsgesetz wie ein Insekt und eine Stütze ist in ihrer Höhe durch die Knicklänge ebenso begrenzt wie ein Baum.

Sowohl bei geplanten als auch bei natürlichen Systemen können die Einwirkungen, die einen Bildungsprozeß auslösen, ihren Ursprung außerhalb des Systems haben. Der Mensch verformt Materialien und bringt sie in eine bestimmte Position, um daraus ein Gebäude oder ein Fahrzeug zu konstruieren. Licht, Feuchtigkeit, Temperatur aber auch Schadstoffeintrag sind äußere Einwirkungen, die ein natürliches System wie etwa den Wald in seinem Bildungsprozeß entscheidend beeinflussen. Insofern ist auch der Begriff Selbstbildung etwas irreführend, da er zu der Annahme verleitet, ein solcher Bildungsprozeß werde nur durch systemeigene und nicht durch systemfremde Faktoren beeinflußt. Tatsächlich ist aber mit dem Begriff Selbstbildung nur der Ausschluß menschlicher Einwirkung gemeint. (2)

An dieser Stelle wäre es interessant festzustellen, in welcher Weise sich nun vom Menschen geplante Systeme von selbstgebildeten Systemen unterscheiden.

Zunächst gilt, daß sich vom Menschen geplante Systeme von natürlichen Systemen so unterscheiden wie sich der Mensch von der ihn umgebenden Natur unterscheidet. Hier wirkt sich im wesentlichen die menschliche Fähigkeit aus, zielgerichtet schöpferisch tätig zu sein. Zu einem solchen schöpferischen Prozeß gehören sowohl die räumliche und zeitliche Trennung zwischen Planung und Ausführung als auch die Kontrolle der Randbedingungen eines Bildungsprozesses. Das hat zur Folge, daß der Mensch Systeme planen kann, die einen bestimmten, vorher festgelegten Zweck erfüllen. Bei selbstgebildeten Systemen hingegen entfällt die vorhergehende Planung. Die Richtung eines Selbstbildungsprozesses ergibt sich vielmehr aus dem Augenblick: Selbstbildungsprozesse schaffen sozusagen "aus dem Stegreif".(3) Die Schlußfolgerung, daß selbstgebildete Systeme demnach auch keinen Zweck erfüllen könnten, ergibt sich allerdings nicht, sondern die Folgerung lautet, daß der Zweck, den selbstgebildete Systeme erfüllen, nicht vorher bestimmt wurde. Der Zweck eines selbstgebildeten Systems erweist sich erst im nachfolgenden Zusammenwirken eines Systems mit seiner Umwelt. Insofern besteht immer die Möglichkeit, daß sich ein selbstgebildetes System als wenig oder gar nicht zweckmäßig für eine bestimmte Anforderung erweist. Unter der Überschrift "Das Unzweckmäßige in der Natur" hat Gustav Kramer einige Beispiele dazu aufgeführt.(4) Ähnliches gilt auch für die Optimierung einer Zweckerfüllung. Der Mensch kann Optimierung als Ziel formulieren und eine Annäherung daran von vorne herein anstreben, während Selbstbildungsprozesse nur selten und zufällig ein Optimum hervorbringen.

Kehren wir nun zu den eingangs genannten Forderungen einiger Architekturhistoriker des 19. Jahrhunderts an den architektonischen Gestaltungsprozeß zurück. Es war davon die Rede, daß einige Forderungen Merkmale enthielten, die Analogien zu Selbstbildungsprozessen erkennen lassen. Man fragt sich unwillkürlich, ob hier eine Architektur propagiert werden soll, bei der - etwa ähnlich wie bei den 'drip-paintings' eines Jackson Pollock - der Architekt von einem erhöhten Punkt aus die Steine nur noch fallen und ihre endgültige Lage von selbst finden läßt. (In der Kunst ist dafür übrigens der Begriff 'Automatismus' geprägt worden.(5)) Eine solche Vorstellung paßt jedoch kaum ins 19. Jahrhundert. Es geht nicht um die Einführung des Zufalls in den Gestaltungsprozeß. Im Gegenteil: der Zufall, oder das, was als Zufall erscheint, wenn es durch menschliche Willkür hervorgebracht wird, soll geradezu ausgeschlossen werden.(6) Doch betrachten wir einige Aussagen im einzelnen.

Franz Kugler, Verfasser der ersten zusammenhängenden Kunstgeschichtsdarstellung, die 1842 erschien, entwickelt in seinen Schriften Kriterien für Qualität in der Architektur. Indem er Architektur als Ganzheit auffaßt, die aus einzelnen Teilen zusammengesetzt ist, knüpft er die Qualitätsfrage an die Frage der Beziehung der einzelnen Architekturteile zueinander und der Beziehung der Teile zum Ganzen. Eine qualitätvolle Beziehung bezeichnet er als "organisch", eine nicht qualitätvolle Beziehung als "unorganisch". Unter 'Beziehung' ist dabei nicht nur das statische Verhältnis der fertig geformten Teile in ihrer formalen und räumlichen Wechselwirkung gemeint, sondern insbesondere auch die dynamische Abhängigkeit während des Entstehungsprozesses. Dieser Entstehungsprozeß unterliegt nach Kugler gewissen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten, die allerdings unterschiedlich angewendet werden können. Er unterscheidet eine "innerliche" und eine "äußerliche" Anwendung. Die innerliche Anwendung führt zu einem qualitätvollen, also 'organischen' Ergebnis, die äußerliche Anwendung zu einem nicht qualitätvollen, also 'unorganischen' Ergebnis. Äußerlich sei die Anwendung dann, wenn die Gesetze im Sinne "abstrakter Formeln" oder "schematischer Regeln" gebraucht würden, wenn ein Bauwerk ausschließlich "nach äußerer Berechnung konstruiert" werde. "Trockener, starrer Schematismus" bestimme diese Vorgehensweise. Das Ergebnis sei dann "unorganisch", "disharmonisch", "willkürlich", "heterogen", "gewaltsam", "unentschieden", "primitiv", "nüchtern". Die einzelnen Architekturteile seien voneinander "isoliert", "ohne innerlichen Bezug", "äußerlich eines an das andere gelehnt" und blieben "einander fremd"; "ihre Wechselwirkung sei zerrissen".

Im Gegensatz dazu sei die Anwendung der Gesetze innerlich, wenn ein "klares, nüchternes Gefühl" die schematische Regel zu einem "Gesetz lebendiger Entwicklung" werden ließe. Dieses klare, natürliche Gefühl, teilweise auch als "inneres Gefühl" bezeichnet, wird an anderer Stelle noch näher beschrieben als das "Gefühl für das Ganze und für das gegenseitige Verhältnis seiner Teile" bzw. als das "Gefühl, welches mehr das Ganze und das Einzelne vorzugsweise nur in seinem Bezuge zum Ganzen berücksichtigt". Das Ergebnis einer gesetzmäßigen Entwicklung, die von diesem "inneren Gefühl" bestimmt sei und bei der sich ein Entwicklungsschritt mit "innerer Notwendigkeit" aus dem vorhergehenden ergebe, bezeichnet Kugler als "organisch". Das Verhältnis der einzelnen Architekturteile zueinander und zum Ganzen wird dann wie folgt charakterisiert: zwischen den Teilen besteht ein "Gleichgewicht"; die Teile "bedingen sich gegenseitig" und sind "auf organische Weise verflochten"; ein Teil ist aus dem anderen "hervorgewachsen" und die Teile "lösen sich ineinander auf"; zwischen den Teilen gibt es "harmonische Übergänge"; sie streben "einem gemeinsamen Schluß- und Vollendungspunkte zu" und sind "in das Ganze verschmolzen"; es gibt einen "steten Zusammenhang des Ganzen und der Teile in ihrem Bezug auf das Ganze"; die Teile "nehmen Rücksicht auf das Ganze"; sie bilden ein "Ganzes aus einem Gusse"(7)

Soweit die Zitate von Franz Kugler. Kugler setzt also voraus, daß sich beim Entstehungsprozeß von Architektur ein Entwicklungsschritt 'mit innerer Notwendigkeit' aus dem vorhergehenden ergibt (vom 'Hervorwachsen' der Teile war die Rede) und daß dem ganzen ein irgendwie geartetes 'inneres Gesetz' zugrunde liegt. Er fordert den Architekten auf, dieses Gesetz mit einem 'klaren, natürlichen Gefühl' zu erspüren und zu vollziehen.

Vorstellungen eines derart zugrunde liegenden Gesetzes finden sich auch bei anderen Autoren in den Bau- und Kunstzeitschriften des 19. Jahrhunderts. Nach E. Metzger handelt es sich dabei um ein "natürliches Bedingungsgesetz", "dessen Ausdruck und Erscheinung nach außen hin immer Nothwendigkeit ist".(8) An anderer Stelle ist von einem dem Bauwerk "innewohnenden, von innen heraus schaffenden statischen Gesetz" die Rede. (9) Der Stoff sei es, der "die Form als die Bedingung seiner Erscheinung in sich trage und aus sich entwickle".(10)

Man erinnert sich unwillkürlich an die Frage des amerikanischen Architekten Louis Kahn an den Backstein: "What do you want, brick?" und dessen Antwort: "I like an arch". (11) Damit ein Architekt die Sensibilität für den Wunsch des Backsteins entwickeln kann, fordert Louis Kahn, die Arbeit von Architekturstudenten nicht auf Problemlösungen sondern auf das Erspüren der Natur einer Sache zu richten. (12) Damit dürfte er von der Forderung Kuglers nach dem Erspüren des "inneren Gesetzes" nicht allzu weit entfernt sein.

Bleibt die Frage, welche Rolle dem Architekten als Gestalter nach diesen Vorstellungen noch bleiben soll. Soll er sich darauf beschränken, quasi als Erfüllungsgehilfe der Natur, den von einem 'inneren Gesetz' in der Architektur angelegten Gestaltungsprozeß sklavisch auszuführen? Damit wiese der architektonische Gestaltungsprozeß ein entscheidendes Merkmal auf, das Selbstbildungsprozesse von geplanten Prozessen unterscheidet: das Fehlen der zielgerichtet schöpferischen Einwirkung des Menschen. Ist der Mensch nur noch Vollstrecker und "Materialisierer" eines vorgegebenen Prozesses, dann ist er nicht mehr selbst der Gestalter.

Hier setzt mein Interpretationsversuch an. Aber rechtfertigt diese dem Menschen zugedachte unfreie Rolle tatsächlich die Annahme, in den zitierten Schriften werde die Nachahmung von Selbstbildungsprozessen in der Architektur gefordert?

Vergleicht man weitere Merkmale von Selbstbildungsprozessen mit dem von Kugler und anderen geforderten Gestaltungsprozeß, stellt man schnell fest, daß dies nicht der Fall ist.

Kuglers Konzeption geht ja davon aus, daß die Anwendung der von ihm vorgeschlagenen Methode automatisch Qualität in der Architektur hervorbringt. Bei Selbstbildungsprozessen hatten wir jedoch festgestellt, daß sie nur selten und zufällig ein Optimum erzeugen. Desweiteren soll auch bei Kugler die Architektur einen vorher bestimmten Zweck erfüllen. Bei Selbstbildungsprozessen ist dies jedoch nicht möglich.

Wenn es also nicht die Merkmale von Selbstbildungsprozessen sind, die in die Architektur übernommen werden sollen, die Merkmale welcher Prozesse sind es dann?

Wilhelm Lübke, ein mit Kugler zusammenarbeitender Kunsthistoriker, formuliert bei der Beschreibung der Marienkirche in Danzig, einzelne Bauteile hätten in eine "organische Verbindung innerlichen Aufwachsens und Hervorkeimens" mit anderen Bauteilen gebracht werden sollen.(13) Auch bei Kugler war schon vom "Hervorwachsen" der Teile die Rede gewesen. Wachstum scheint also ein Schlüsselbegriff zu sein.

Tatsächlich sind Wachstumsprozesse und Selbstbildungsprozesse nicht dasselbe. Selbstbildungsprozesse ergeben sich aus dem Augenblick, Wachstumsprozesse sind langfristig angelegt. Selbstbildungsprozesse sind nicht zielgerichtet, Wachstumsprozesse sind durch den genetischen Code in ihrer Richtung festgelegt. Selbstgebildete Systeme erfüllen keinen vorher festgelegten Zweck, gewachsene Systeme erfüllen zumindest den Zweck der Arterhaltung.

Vergleicht man nun die genannten Wachstumsmerkmale mit den Forderungen Kuglers, so lassen sich durchaus Analogien erkennen. Das, was der Architekt mit 'klarem, natürlichem Gefühl' erkennen soll, das "innere Gesetz", ließe sich so als Analogie zum genetischen Code bei Wachstumsprozessen interpretieren. Das wäre dann sozusagen die Quintessenz dieser von der Romantik geprägten Vorstellung: der Architekt soll den einer Bauaufgabe zugrunde liegenden "genetischen Code" durch ein "inneres Gefühl" aufspüren.

Doch wovon soll dieser "genetische Code" bestimmt sein?

Nach einem Artikel im Deutschen Kunstblatt (1852) vom "Geist der Zeiten". Alle Vorschrift des Architekten liege "in der geschichtlichen Entwickelung der voraufgegangenen Zeiten, und zwar aller Zeiten" (14)

Und wer bringt den Geist der Zeiten hervor? Doch wohl der menschliche Geist! Der Architekt wäre dann also doch noch mehr als ein bloßer Erfüllungsgehilfe der Natur! Wird also nicht der, der ein dunkles, undefiniertes inneres Naturgesetz zu ergründen vermag, sondern der, dem es am besten gelingt, den Geist der Zeiten zu erfassen, die Qualität in der Architektur hervorbringen?

Damit hätten wir eine neue These für einen neuen Vortrag: Der "Geist der Zeiten" als Qualitätsmerkmal in der Architektur?