Reinhold Urmetzer / Claudius Homolka

Opus mixtum und gefrorene Musik

Postmoderne Kunst am Beispiel der Stuttgarter Staatsgalerie

Staatsgalerie, Taxivorfahrt

Für den Architekturhistoriker Charles Jencks beginnt mit dem 15. Juli 1972, genau 15.32 Uhr, das postmoderne Zeitalter. Es ist der Abbruchtermin einer vierzehnstöckigen Massenwohnsiedlung in St. Louis (USA), in welcher selbst schwarze Gettobewohner nicht mehr leben wollten. Die Postmoderne wurde unvermeidlich, behauptet James Stirling, englischer Baumeister des spektakulären Stuttgarter Neubaus, weil die Leute mit der Moderne unzufrieden waren. Seine Kritik hat Tradition: Bereits in den sechziger Jahren ist der Architekt Robert Venturi mit seinem Buch Komplexität und Widerspruch in der Architektur gegen die Langweiligkeit der allgegenwärtigen Kistenarchitektur des modernen Stils zu Felde gezogen.

Ob mit der Einweihung der Neuen Staatsgalerie durch Ministerpräsident Lothar Späth, einem Neunzig-Millionen-Bau, der das bereits eröffnete neue Kammertheater und Räume für die neue Musikhochschule einschließt, nun auch in der Bundesrepublik das postmoderne Zeitalter begonnen hat, mag dahingestellt bleiben. Mit Hans Holleins (Wien) vieldiskutiertem Abteiberg-Museum in Mönchengladbach, mit Richard Meiers (New York) neuem Kunstgewerbe-Museum in Frankfurt und Stirlings Berliner Wissenschaftszentrum ist die Postmoderne jedoch weiterhin sehr erfolgreich auf dem Vormarsch, unsere in stereotypem Akademismus erstarrte Baulandschaft durch originelle und fantasievolle Ideen aufzubrechen.

Recht hoch schlagen mittlerweile in Stuttgart, einem Zentrum konstruktiven Bauens und konstruktiver Denkweise, die Wellen der Auseinandersetzung. Als restaurativ und protofaschistisch, einem monumentalen Steinbruch gleich, haben einheimische Kritiker, nicht frei von Futterneid, das Bauwerk bezeichnet. Seine freundlich-souveräne Kampfansage an die Moderne und an das moderne Bauen, an den "internationalen Stil" von Bauhaus, Funktionalismus und Abstraktion, ist also wohl verstanden worden.

Man hat den Staatsgalerieneubau eine plastische Großcollage genannt (Goethe bezeichnete Architektur allgemein als gefrorene Musik), und ohne Zweifel setzt sie mit ihrem Konstruktionsprinzip und ihrer Ästhetik wichtige Akzente in die Kunstlandschaft, die sich auch in Musik und Malerei seit geraumer Zeit mit der "Moderne" schwertut und in einer Krise befindet.

Formal gibt sich das Gebäude betont konservativ; es hält sich an den alten Bautyp Museum, nimmt Schinkels Altes Museum in Berlin wieder als Prototyp in wesentlichen Strukturmerkmalen auf und unterwirft sich damit augenzwinkernd einem traditionellen formalen Prinzip. Spielerisch werden jedoch bei näherem Hinsehen viele Elemente - als Zitat, als Abwandlung, als Weiterentwicklung der historischen Vorbilder - variiert, das Grundkonzept systematisch ironisiert und zerstört.

Ob verglaste Kurven und Festungs-Pathos, gotische Spitzbögen und Kreuzsprossenfenster, schwere Gesimse und modernster Funktionalismus - sie alle verbinden sich zu einer elegant-monumentalen Harmonie voller Dissonanzen, die gleichwohl nicht befremdlich, sondern eher amüsant und zuweilen auch grotesk wirkt.

Leicht und ohne Ehrfurcht wird die Fassadengliederung eines Hauses von Le Corbusier aus dem Jahre 1927 für die Rückseite des Verwaltungstraktes übernommen, um gleich wieder mit buntfarbigen Markisen gebrochen zu werden. Die über den Eingängen angebrachten und manieristisch gestreckten konstruktivistischen Vordächer, als Signal für die Eingangsbereiche gedacht, folgen der russischen Avantgarde um 1920; das spektakuläre Eingangsstahlgestell, von Stirling als Taxivorfahrt benannt, ist eine neuzeitliche Tempelerinnerung an Griechenland. Voutengesims am oberen Gebäudeabschluß um den Skulpturenhof oder die Eingangstür an der Vorderfront zum Parkhaus halten sich an altägyptische Vorbilder, der Eingang ins Totenreich führt jedoch heute - in die Tiefgarage.

Lange baugeschichtliche Traditionen besitzen selbst scheinbar innovative Details. So liegen etwa die "herausgefallenen Steine" vor der Tiefgarage in der Tradition der "gebauten Ruine", wie sie in den spätbarocken Garten- und Parklandschaften des achtzehnten Jahrhunderts mit ebensolcher spielerischen Absicht eingeplant worden ist. Heute brechen sie - in spektakulärer Art und Weise auch jeden Anspruch auf Perfektionismus und Geschlossenheit.

Opus mixtum nannten die Römer eine zwischen Tuff- und Ziegelstein abwechselnde Mauertechnik, die im Byzantinischen Bereich über mehrere Jahrhunderte hindurch mit verschiedenen Steinarten fortgesetzt wurde, in Italien zur Zeit der Romanik und Gotik in Form abwechselnd heller und dunkler Marmorbänder ihre besondere Ausprägung gefunden hat und jetzt in Form von sich abwechselnden horizontalen Travertin- und Sandsteinbändern dem Neubau sein unverwechselbares Aussehen gibt.

Wahl und Anordnung der Versatzstücke enthalten irritierende Störmomente, zeugen von spielerischer Leichtigkeit und feiner Ironie als konsequent durchgehaltenem Organisationsprinzip. Sie vermeiden damit, daß das Gebäude zu einem formalistischen Sammelsurium historisierender Zitate wird. Die Brechung eines Stils durch den anderen soll nach Stirlings Aussage das Starr-Autoritäre, die bedingungslose Herrschaft einer Idee oder Abstraktion, vermenschlichen. Die Gesimsfragmente als Beleuchtungsvorwand in den Innenräumen etwa zitieren ironisch und wie eine vergessene Theaterkulisse die Stuck-Ära und stehen in deutlicher Konkurrenz zu den Eisenträgerprofilen, auf denen sie zu schweben scheinen.

Selbst eine historische Idee aus dem letzten Jahrhundert findet jetzt ihre späte, wenn auch ironisch gebrochene Ausführung. Weinbrenners monumentale Sarkophag-Konstruktion, im Skulpturenhof aufgestellt, erhält an der statisch schwächsten Stelle eine Fuge, so daß er ohne eine unsichtbare Hilfskonstruktion zusammenbrechen müßte. Für die an klassisch zentraler Stelle angeordnete Rotunde ist statt der nach römischem Pantheon-Vorbild erwarteten großen Kuppel nur noch ein großes Loch als Öffnung zum Himmel vorhanden. Riesige Keilsteine über verschiedenen Bögen und Öffnungen, ebenfalls Relikte aus der Antike, entpuppen sich als Platten ohne Funktion, ebenso wie sich hinter der dünnen Natursteinfassade, die dem Bau seinen so monumentalen Charakter gibt, dicke Betonblöcke versteckt halten - die Show spielt mit dem Dekorativen und entlarvt sich selbst augenzwinkernd als Illusion.

Fast überall drängen sich Gegensätze auf. Neben edlem Travertin und Sandstein leuchten popfarbige Röhren im High-Tech-Stil, der sich mit übergroßen Luftansaug-Trichtern, modernster Technik und Elektronik sowie einem spektakulären Fahrstuhl nachdrücklich in Erinnerung ruft. Ein Holzparkettboden geht plötzlich in einen giftgrünen Gumminoppenboden über, um Stirlings Aussage zu unterstreichen, daß die Museen auch Orte populärer Unterhaltung sind.

Unperfekt-"fehlerhafte" Elemente also überall des Gebrochenen und Gegensätzlichen, ein Konglomerat aus Widersprüchen, Paradoxen und Anspielungen für den aufmerksamen Betrachter, das bis in die Gestaltung der Innenarchitektur reicht. Die forcierte und zuweilen übertrieben anmutende Behandlung einzelner Elemente und Stilzitate mag dabei als Manierismus gelten - der Begriff hat aber seit langem seinen pejorativen Charakter verloren. Eher schon ist der Bau samt seinem Stilpluralismus eine neue Form von Eklektizismus und ein repräsentativer Ausdruck unseres historischen Zeitalters, dem alle Formen vergangener Kunst uneingeschränkt zur Verfügung stehen und durch die Medien auch permanent verfügbar gehalten werden.

Neu für die Architektur ist die Konsequenz, mit der sich Stirling vom Funktionalismus und seinen Synonymen Beton, Stahl und Glas abwendet, ohne jedoch ganz darauf verzichten zu können. Beton bleibt zwar das Hauptkonstruktionsmittel, es versteckt sich jedoch verschämt hinter Natursteinfassaden. Auch der Stahl wird weniger als Konstruktionselement, sondern eher als historisierende Dekoration eingesetzt; seine Schärfe und plumpe Aufdringlichkeit ist ihm durch popige Farben genommen. Das Glas bleibt durch größtmögliche Varianz hoffähig: Großflächige Schrägen und kleinteilige Lochreihen, quadratische Schachbrettfenster und runde Bullaugen versuchen den Makel der monotonen Fensterfassaden auszulöschen.

Charakteristisch für den neuen Baustil ist auch der kontextuelle Bezug; Stirling versteht seine Arbeit immer im Zusammenhang von Geschichte und Erwartungen der Auftraggeber. Er spricht von abstrakten und repräsentativen Elementen, wobei der letzte Begriff eher im Sinn von volkstümlich und populistisch verstanden werden muß. Dazu gehört etwa die Wiederaufnahme traditioneller und regionalistischer Formen mit dem bewußten Einsatz bodenständiger Traditionen (als Baumaterialien verwendet er in Kalifornien Holz, in England Backstein, in Deutschland Stein), dazu gehören Geschichte und Wiedererkennung des Gewohnten. Unterhaltend, verständlich, auch sinnlich-emotional fesseln diese Teile des Bauwerks ohne Zweifel jedermann.

Trotzdem bekennt sich Stirling auch zu den "abstrakten" Quellen seiner Bauweise, zu Kubismus, Konstruktivismus, De Stijl, zu Bauhaus und Le Corbusier. Die Einheit dieser Gegensätze macht den ungewöhnlichen Reiz seines Bauwerks aus, das sowohl als pathetisches "Monument" - als Signal, Blickfang und Wahrzeichen der Stadt - wie auch als ein der Kunst "dienendes" Museum allen Erwartungen gerecht wird.

In die allgemeine Kunstdiskussion der Gegenwart lassen sich seine ästhetischen Prämissen leicht übertragen. In der italienischen Malerei spricht man bereits von einer Transavanguardia, die mit ihrem heftigen, neo-expressionistischen Mal-Duktus auch die Bundesrepublik erreicht und hier zu einem populären Innovationsschub geführt hat. Auch in der nach-abstrakten Musik werden heute sinnlich-"repräsentative" Momente wie Verständlichkeit, Wiedererkennen, Tradition und Gefallen neu geschätzt. Minimal music, Neue Einfachheit (etwa im Sinne von Karel Goeyvaerts) und der romantische Eklektizismus der jungen deutschen Komponisten (etwa Rihm, Trojahn, Febel) durchbrechen dogmatische Positionen einer akademischen "Moderne", um das Starr-Erstarrte wieder zu "vermenschlichen".

Ohne Skrupel bekennt sich Stirling immer wieder zur Tradition. Die zukünftige Architektur muß die Vergangenheit einschließen, behauptet er. Uralte Sehnsüchte kehren zurück. Ich für meinen Teil begrüße die Überwindung der revolutionären Phase der Moderne. Heute können wir zurückblicken und die gesamte Architekturgeschichte wieder als unseren Hintergrund betrachten.

Nach seinen Erläuterungen in einem Interview singt sein Gebäude; auch den Vergleich mit einer Sinfonie läßt er in einem persönlichen Gespräch zu. An Bruckner ist man tatsächlich erinnert: Zwar dort ohne popigen Witz, aber doch mit all dem großen Pathos, den abrupten Brüchen, auswuchernden und wieder abgebrochenen Melodien, mit harmonischen Extravaganzen und Reminiszenzen, Zitaten und einer Monumentalität, die Zwerge zu Riesen werden läßt.