5. KONZEPTE FÜR EINE DENKMALPFLEGE IN BOMBAY

5.1. EUROPÄISCHE DENKMALPFLEGE IN INDIEN ?

Häufig wird die Frage erhoben: "Gibt es in Indien keine anderen Probleme als die Erhaltung alter Gebäude?" Diese Frage ist nicht unberechtigt und soll nicht leichtfertig abgetan werden, zumal die mit 'Denkmalpflege' verbundenen Wertvorstellungen ausschließlich westlichen Ursprungs sind und auch hierzulande erst in den letzten Jahrzehnten in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit vordrangen. TINDALL weist darauf hin, daß indischem Denken die Vorstellung fremd sei, ein Gebäude habe, nur weil es alt ist, einen historischen Wert erlangt oder stelle quasi eine Verkörperung der verlorenen Vergangenheit dar.109 Für einen Buddhisten, Hindu oder Jaina verläuft die Geschichte in zyklischen Abläufen des Werdens und Vergehens, und Erscheinungen von Verfall und Zerstörung sind etwas ebenso Natürliches wie die Entstehung neuer Strukturen. Vergangenes ist nicht verloren, sondern wird in Neuem wiedergefunden. In der linearen Geschichtsvorstellung der Europäer sind dagegen alle Ereignisse einmalig und Vergangenes kann nicht wiedergefunden sondern allenfalls in Form von materieller Konservierung festgehalten werden. Beispielhaft kommt dieser Gegensatz in einem Vorgang um einen Jaina-Tempel 110 in der nördlichen Basarzone zum Ausdruck. Der Tempel war 1813 gebaut und mit reich skulptierten Bauteilen aus Marmor und Teakholz ausgestattet worden. Der Hauptraum im ersten Obergeschoß enthielt Wand- und Deckengemälde von überregionaler kunsthistorischer Bedeutung. Für die Tempelverwalter war es etwas Normales, den Bau 1976 abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen. Die Zerstörung der Gemälde und Skulpturen bedeutete für sie keinen Verlust, da diese ja durch etwas Neues ersetzt wurden. Ganz anders der Kommentar in der Kunstzeitschrift 'Marg', verfaßt von einem Inder europäischer Abstammung. Unter der Überschrift "Bombay's Loss to Posterity" (Bombay's Verlust für die Nachwelt) wurde gerade die Unwiederbringlichkeit und Endgültigkeit dieses Verlustes für die Nachwelt beklagt.111 Es kann also kein Zweifel daran bestehen, daß die Wertvorstellungen, die mit der Erhaltung und Konservierung historischer Bau- und Kulturdenkmale verbunden sind, einen westlichen Ursprung haben.

Eine Frage, die sich an diese Feststellung anschließt, ist die, ob die Einführung westlicher Wertvorstellungen in Indien positiv oder negativ zu bewerten ist. Prinzipiell kann eine Antwort darauf nur von indischer Seite gegeben werden. Je nach geistiger Ausrichtung eines Befragten kann sie extrem in der einen oder der anderen Richtung ausfallen. Nimmt man die allgemeine Indisierungstendenz als Indiz, die sich zum Beispiel in der Umbenennung von Bombay in Mumbai oder in der Abschaffung der englischen Straßennamen ausdrückt, läßt sich daraus eine Orientierung auf indische Werte und eine Abgrenzung gegenüber europäischen Einflüssen ableiten. Die historisch bedingte negative Assoziation von westlichem Einfluß und Kolonialismus spielt dabei eine Rolle. Genau umgekehrte Tendenzen lassen sich in vielen Bereichen des täglichen Lebens ablesen. Westliche Mode, westliche Produkte, westliche Wohnformen usw. sind ein Indiz für die Übernahme westlicher Werte in breiten Bevölkerungskreisen der Mittel- und Oberschicht. Organisationen wie der Indian National Trust und das Save Bombay Committee sind in diesem Umfeld beheimatet. Die Bewertung westlicher Wertvorstellungen wird also unterschiedlich ausfallen, jenachdem, wen man fragt.

Für die eigene Urteilsfindung in Bezug auf eine Rechtfertigung europäisch geprägter Denkmalpflege in Indien sind daher weitere, nach Möglichkeit objektivierbare Kriterien zu finden. Ein solches Kriterium könnte zum Beispiel die Tatsache sein, daß, was immer die Baudenkmale nach ihrem Abriß ersetzt, nämlich Hochhäuser und moderne Rasterarchitektur, mindestens ebenso westlich ist wie die Idee der Denkmalpflege. Desweiteren gibt es bei einigen erhaltenswerten Gebäuden so etwas wie räumliche Qualitäten oder Wohnqualitäten, die zwar im Sinne einer wissenschaftlichen Quantifizierung oft schwer zu fassen sind, die aber - sicher auch nach dem Empfinden der indischen Nutzer - von keinem Neubau erreicht werden können. Schließlich wäre noch anzuführen, daß auch in einem Land, das wesentlich vom Denken des Hinduismus geprägt ist, das Bedürfnis nach einer Identifikation mit gebauten Orten vorhanden ist, wie das Beispiel der 'Elefantenfassade' von Bhang Wadi in Bombay zeigte (siehe Abschnitt 4.2.4.).

Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Erhaltung von Baudenkmalen getroffen werden sollen, kann nur in Indien gefällt werden. Auch soll mit dem folgenden Katalog von Vorschlägen keine europäische Expertenmeinung vorgetragen werden. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß die Komplexität und die Verflechtung der Faktoren, die sich auf den Bestand von Baudenkmalen auswirken, vor Ort noch besser erfaßt werden können. Die Voraussetzung für den folgenden Abschnitt ist auf jeden Fall die Grundannahme, daß die Erhaltung von Baudenkmalen in Bombay wünschenswert und Maßnahmen zur Einrichtung einer Denkmalpflege sinnvoll und notwendig sind. Dies Annahme stimmt auch mit den Empfehlungen der UNESCO zum Schutz historischer Denkmäler aus dem Jahr 1976 überein.112

5.2. MASSNAHMEN UND VORSCHLÄGE

5.2.1. Erfassung der Baudenkmale

Die historische Bausubstanz in Bombay unterliegt einem Prozess umfassender und schneller Veränderung. Nicht weniger als drei der von uns dokumentierten Gebäude wurden noch während unseres Aufenthaltes in Bombay abgerissen, ohne daß wir zuvor Kenntnis von der bevorstehenden Zerstörung gehabt hätten.113 In den meisten Fällen wird das Verschwinden von Baudenkmalen kaum wahrgenommen. Eine vordringliche Aufgabe wäre deshalb eine flächendeckende Erfassung der Baudenkmale und eine nachfolgende Bewertung ihrer Schutzwürdigkeit. Ziel einer solchen Erfassung müßte die Eintragung ausgewählter Gebäude in ein Denkmalregister sein. Gemäß eines internen Papiers des Indian National Trust wären dabei folgende Faktoren zu berücksichtigen:

Mit der Erstellung einer Liste solcher Bauten sollte eine Ausschuß eines politischen Gremiums (Parlament, Gemeinderat) oder eine Kommission von Fachleuten und Vertreter sachkundiger Organisationen (INTACH, Save Bombay Committee) beauftragt werden. Keinesfalls sollte dies zu einer behördlichen Aufgabe werden (wegen der Gefahr von Ineffektivität und Korruption). Hilfreich für die Festlegung von Prioritäten bei weiteren Maßnahmen wäre ferner eine qualitative Differenzierung und Einordnung der Gebäude.

5.2.2. Denkmalschutzgesetz

Um den Schutz von Baudenkmalen zu gewährleisten, müssen das Verfahren und die Bedingungen einer Gebäudeeintragung in das Denkmalregister gesetzlich geregelt werden. Denkbar wäre die Ergänzung und Erweiterung eines bestehenden Gesetzes wie z.B. der 'Building Byelaws & Development Control Rules' (Bauordnung und Bebauungsvorschriften) oder des 'Maharashtra Regional and Town Planning Act' (Gesetz für Stadt- und Regionalplanung). Wegen der großen Zahl der zu regelnden Einzelheiten wäre jedoch der Erlaß eines eigenen Denkmalschutzgesetzes vorzuziehen. Ein solches Gesetz müßte unter anderem folgendes regeln: das Verfahren einer Eintragung in das Denkmalregister, einschließlich der Formen der Bekanntmachung, der Fristen und der Einspruchsmöglichkeiten; die aufschiebende Wirkung eines solchen Eintragungsprozesses auf alle Baumaßnahmen; die Art und den Inhalt von Auflagen und ihre Durchsetzung sowie Maßnahmen bei Zuwiderhandlungen; das Verfahren möglicher Enteignungen und die Höhe von Entschädigungen; die Form der Begutachtung und Genehmigung von Bauanträgen bei geschützten Gebäuden; die Gewährung finanzieller Unterstützung in Form von Steuererleichterungen, Subventionen etc.; weitere Maßnahmen zum Ausgleich finanzieller Nachteile. Zu den Auflagen müßte insbesondere gehören, daß an einem geschützten Gebäude keine baulichen Veränderungen, wie Abriß, An- und Umbauten, Reparaturen usw., ohne Genehmigung vorgenommen werden dürfen. Ebenso müßte die Anbringung von Schildern, Werbetafeln und Plakaten sowie Masten und Kabeln genehmigungspflichtig sein. Die Entscheidung über Anträge zu baulichen Veränderungen müßten wiederum - ähnlich wie bei der Eintragung in das Denkmalregister - bei einer unabhängigen Kommission liegen. In Dehli gibt es bereits ein solches Gremium114, an dem man sich in Bombay orientieren könnte.

5.2.3. Mietrecht

Wie an anderer Stelle dargestellt wurde, ist das Mietrecht hauptverantwortlich für den schlechten Erhaltungszustand vieler Baudenkmale. Wegen der seit 1940 eingefrorenen Mieten und der geringen Mieteinnahmen der Hausbesitzer reichen die finanziellen Mittel für die Gebäudeinstandhaltung nicht aus oder es besteht kein Interesse daran. Zwei Lösungsansätze wären hier denkbar. Nach dem ersten Ansatz müßte die Einkommenssituation der Hausbesitzer verbessert werden. Dies könnte prinzipiell durch eine Aufhebung der Mieteinfrierung erreicht werden. Finanziell wäre das für die meisten Mieter kein Problem, aber politisch ließe es sich wahrscheinlich kaum durchsetzen. Ein zweiter Ansatz würde die Verantwortung für die Gebäudeinstandhaltung vom Vermieter auf die Mieter übertragen. Dazu müßte die Bildung von Mieterkooperativen gesetzlich weiter gefördert werden. Wo solche Mieterkooperativen bereits bestehen, hat sich dies bewährt. Die Schwierigkeiten bei der Bildung von Kooperativen liegen in der Regel nicht beim Hausbesitzer, sondern bei den Mietern, die oft wenig motiviert sind, sich mit ihrem Geld am Hausbesitz zu beteiligen. Dabei hat eine Studie des Tata Institute of Social Sciences gezeigt, daß mindestens die Hälfte der Mieter über ausreichende Geldmittel verfügt.115 Das Denken vieler Mieter ist hier kurzsichtig, und oft wird die Zahlung der Sanierungssteuer (siehe Abschnitt 3.2.3.2) als eine Art Versicherung für den Gebäudefortbestand mißverstanden. Hier wäre vor allem mit einer Bewußtseinsarbeit bei den Mietern anzusetzen, die ihnen ihre Mitverantwortung bei der Gebäudeinstandhaltung - gerade angesichts der minimalen Mieten - deutlich macht.

5.2.4. Finanzierung

Die Auflagen zur Instandhaltung eines geschützten Gebäudes und zur Konservierung architektonischer Merkmale sind für einen Hausbesitzer mit finanziellen Mehrbelastungen verbunden. Hier ist ein Ausgleich in Form von Steuererleichterungen, Subventionszahlungen oder zinslosen Darlehen vorzusehen. Steuererleichterungen könnten insbesondere bei gebäudebezogenen Steuern, das sind Grundsteuer und Sanierungssteuer, ansetzen. Eine Steuerermäßigung oder ein Steuererlaß hätten aber den Nachteil, daß sie jeden Hausbesitzer in gleicher Weise begünstigen und die tatsächlichen Mehraufwendungen für Instandhaltungen und Reparaturen nicht berücksichtigen würden. Nach einem anderen Modell könnte zum Beispiel die Grundsteuer aller betroffenen Gebäude in einem speziellen Fonds gesammelt und dann den tatsächlichen Aufwendungen entsprechend wieder verteilt werden. Generell läßt sich sagen, daß Modelle zur Steuerumverteilung realistischer sind als etwa der Vorschlag von Subventionszahlungen aus allgemeinen öffentlichen Haushaltsmitteln. Obwohl in Bombay ein Drittel des gesamten indischen Steueraufkommens erwirtschaftet wird, ist gerade auch die Stadtverwaltung von Bombay angesichts der vielen anderweitigen Aufgaben und ihres nur mäßigen Anteils an den Steuereinnahmen finanziell vollkommen überfordert. Insgesamt ist die Finanzierungsfrage nicht einfach zu lösen.

5.2.5. Verwaltung

Bei den Vorschlägen zur Einrichtung einer Kommission zur Erstellung des Denkmalregisters und einer weiteren Kommission zur Begutachtung und Genehmigung von Bauanträgen bei geschützten Gebäuden wurde betont, daß diese Aufgaben nach Möglichkeit nicht von einer Behörde innerhalb der öffentlichen Verwaltung wahrgenommen werden sollten. Die Diskrepanz zwischen gesetzlichen Vorschriften und ihrer Anwendung, zwischen Planung und tatsächlicher Entwicklung, die bei der Darstellung der verschiedenen Phänomene immer wieder festgestellt wurde, hat ihre Ursachen im wesentlichen in der Unzuverlässigkeit solcher Behörden.

Verschiedene Maßnahmen im Zusammenhang mit Baudenkmalen ließen sich vorstellen. Dazu gehört eine Verstärkung der Aktivitäten des Antikorruptionsbüros (ACB). Es müßte z.B. möglich sein, Baumaßnahmen vor Ort auf ihre Übereinstimmung mit bestehenden Vorschriften zu überprüfen. Daß ein neungeschossiges Hochhaus auf einer zweigeschossigen alten Villa mit kleinem Grundstück keine Geschoßflächenzahlbegrenzung mehr einhält, müßte einem unbestechlichen Beamten auffallen. Daß die Vertragsbedingungen bestimmter Erbpachtverträge keine Gebäudeabrisse zulassen, ist ebenso ein offenes Geheimnis. Da bei solchen Bauprojekten größere Geldsummen verdient werden, könnte man bei Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten und Verhängung entsprechend hoher Bußgelder manches Sanierungsvorhaben finanzieren. Allerdings befürchte ich, daß solche Vorschläge zu sehr europäischem Schreibtischdenken entspringen und einen weiteren Beitrag zur schon erwähnten Diskrepanz zwischen Planung und tatsächlicher Entwicklung liefern.

5.2.6. Dokumentation

Da die tatsächliche Entwicklung auch im Bereich der Denkmalpflege Planungen und Gesetzen davoneilen wird, bleibt als letzter Vorschlag, die historische Bausubstanz wenigstens noch zu dokumentieren. Eine Dokumentation geht über die bloße Erfassung von Gebäuden hinaus. Sie versucht vielmehr, Gebäude in ihrem geschichtlichen, räumlichen und sozialen Kontext zu beschreiben und für die Nachwelt festzuhalten. Die Dokumentation eines Gebäudes sollte neben Fotos, Plänen und einer Beschreibung auch Angaben über Geschichte, Nutzung, Besitzverhältnisse usw. enthalten. Bisher sind in Bombay nur ganz wenige Dokumentationen durchgeführt worden, die meisten davon von Architekturstudenten verschiedener Hochschulen. 116 Insbesondere von normalen Wohngebäuden, wie z.B. den Chawls, gibt es noch keine Dokumentationen. Hier bestehen noch große Betätigungsmöglichkeiten für Bauhistoriker und Denkmalpfleger, auch wenn die Zahl der dokumentierbaren Baudenkmale täglich geringer wird.

Unsere eigene Arbeit war der bescheidene Versuch, hier einen Beitrag zu leisten.