4. VERÄNDERUNGSPROZESSE ANHAND VON FALLBEISPIELEN

Bei unserer Untersuchung der historischen Bausubstanz in Bombay hatten wir mehrere in ihrer Bebauung sehr unterschiedliche Gebiete in den Stadtbezirken 'A', 'C' und 'D' zur Dokumentation ausgewählt (Abb. 71). Charakteristisch für die Gebiete Chowpatty und Colaba war das Vorherrschen von freistehenden Wohnbauten mit zum Teil größeren Freiflächen auf den Grundstücken; im Fort und auf der Esplanade bestimmten öffentliche Verwaltungsbauten sowie repräsentative Bank- und Handelshäuser das Bild; für die Basarzone waren die dichte Überbauung mit langgestreckten Mietshäusern (Chawls) und die Anordnung von Häusern um Sackgassen (Wadis) typisch. Um später anhand der Dokumentation Aussagen über die denkmalpflegerische Behandlung der historischen Bausubstanz machen zu können, legten wir ein besonderes Augenmerk auf solche Bauten, an denen sich sichtbare Veränderungsprozesse vollzogen. Zu solchen Veränderungsprozessen gehörten Verfall, Sanierungen, Rekonstruktionen, Abriß, Um- und Anbauten, Aufstockungen und Modernisierungen. Einige dieser Veränderungsprozesse sollen in diesem Kapitel anhand von Fallbeispielen dargestellt werden.

4.1. SANIERUNGEN

Wie bereits im Abschnitt 3.2.3.3 dargestellt wurde, wird die Sanierung von Altbauten auf der Insel Bombay von einer speziellen Sanierungsbehörde (MHADA) durchgeführt. Unter 'Sanierung' wird dabei ausschließlich eine Sicherung der Standfestigkeit durch den Austausch statisch wirksamer Teile, nicht aber eine Konservierung oder Restaurierung architektonischer Merkmale verstanden. Die Folge solchen Vorgehens ist, daß viele Besonderheiten und ornamentale Details an Gebäuden bei einer Sanierung verloren gehen. Stuckelemente an Fassaden werden durch glatten Putz, ornamentale Holzbrüstungen durch einfache Stäbe und hölzerne Zierleisten durch Zementfugen ersetzt. Insgesamt kommt es zu einer Verflachung des architektonischen Ausdrucks. Im folgenden sollen an 4 Beispielen die Vorgehensweise bei Sanierungen und einige Folgen gezeigt werden.

4.1.1. Ustad Building II

Das Ustad Building II befindet sich im Stadtteil Market im Zentrum der Basarzone. Es ist ein typischer Vertreter des Bautyps Chawl in einem der dichtest besiedelten Teile der Stadt. Von der Anlage her ist es ein siebengeschossiger Bau mit Laubengangerschließung auf der Südseite und zwei Treppenhäusern (Abb. 72 + 73). Im Erdgeschoß befinden sich ein Geschäft und Lagerräume, im ersten und zweiten Obergeschoß je 14, im dritten bis sechsten Obergeschoß je 12 Wohnungen. Die durchschnittliche Wohnungsgröße beträgt 11,5 mē. Pro Geschoß gibt es jeweils 3 Latrinen am westlichen Ende. Das Gebäude wurde vor der Jahrhundertwende gebaut. 1985 wurde es wegen Baufälligkeit von der Sanierungsbehörde statisch saniert. Im einzelnen wurden Deckenbalken ausgetauscht, die Außenwände und Treppenhäuser erneuert und neue Balustraden eingebaut. Die Abbildungen 74 und 75 zeigen die Südseite des östlichen Flügels während und nach der Sanierung. Deutlich erkennt man links die im Auflagerbereich abgefaulten Balken, die teilweise ausgetauscht und teilweise durch Metallschuhe abgefangen wurden. Vor der Sanierung war die Wand durch Lisenen und Gesimse sowie durch ca. 1,80 m hohe Rundbogenöffnungen gegliedert gewesen. Metallstäbe und ein hölzerner Handlauf hatten die Öffnungen gesichert und eine Transparenz zwischen innen und außen geschaffen. Nach der Sanierung sieht man eine glatte Wand mit verkleinerten quadratischen Öffnungen. Die Kosten der Sanierung betrugen rund 400.000 Rupien, wovon die Sanierungsbehörde 200.000 Rs, ca. 40 Mieter je 5.000 Rs und der Hausbesitzer 11.000 Rs übernahmen.

4.1.2. Ustad Building I

Schräg gegenüber von Ustad Building II befindet sich ein weiteres Gebäude gleichen Namens, das um etwa 1840 errichtet wurde. Es entspricht in etwa der Anlage des erstgenannten, ist aber kleiner und überwiegend aus Holz gebaut (Abb. 76, 77, 78). 1987 wurde es von der Sanierungsbehörde instandgesetzt. In diesem Fall ging es hauptsächlich um Balken, die ersetzt werden mußten. Abbildung 79 zeigt gut sichtbar, wie anstelle eines Holzbalkens ein Stahlträger eingesetzt wurde. Der Besitzer des Hauses wohnt selbst im 5. Obergeschoß und ist ein Nachfahre des ursprünglichen Bauherren. Er identifiziert sich mit dem Haus und achtete darauf, daß sich die "Zerstörungen" durch die Baufirma in Grenzen hielten. So konnten die gedrechselten Geländerstäbe, die Abdeckplatten an den Balkenköpfen und ein Teil der Profilleisten auf den Stirnflächen der Verandaplatten erhalten werden. Wo die Profilleisten abgebrochen waren, wurden die Kanten leider einfach mit Mörtel zugeschmiert (Abb. 80).

4.1.3. Iqbal Mansion

Das Gebäude Iqbal Mansion befindet sich im Stadtteil Bhuleshwar im Zentrum der Basarzone. Es ist ein Mietsgebäude mit winkelförmigem Grundriß und stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es wurde von einheimischen Bauleuten errichtet und zeigt eine kuriose Mischung von formalen Elementen an der Fassade. Pilaster mit phantasievollen Kapitellen, verkröpfte Gesimse und Zahnfriese zeigen den kolonialen Einfluß, Lanzettformen mit sich durchkreuzenden Linien, florale Elemente und ein Rautenband sind eher lokal bzw. islamisch geprägt. Der Dachabschluß mit dem Mittelgiebel entspricht der Form des alten Bombayer Hauses. Vermutlich wegen Durchfeuchtung (mit entsprechenden Folgeerscheinungen) wurde die südwestliche Ecke des Gebäudes saniert. Auf Abbildung 81 kann man im linken Teil der Fassade das Ergebnis der Sanierung sehen. Die instandgesetzten Wandflächen sind glatt. Alle Stuckelemente, Gesimse und Türeinfassungen wurden entfernt. In der linken Ecke des 2. Obergeschosses erkennt man bereits wieder Anzeichen von Feuchtigkeit.

4.1.4. Jer Mahal

Das Jer Mahal ('Mahal' = Gebäude) ist ein in Bombay allgemein bekanntes Gebäude an einer städtebaulich dominanten Stelle. Es liegt am Südrand der Basarzone in der Gabelung zwischen den ehemaligen Hauptdurchfahrtswegen Girgaum Road und Kalbadevi Road (Abb. 32, Nebenkarte) und ist von der Esplanade her weithin sichtbar. Es wurde 1909 gebaut und beherbergt neben Wohnungen ein Hotel und Clubs aus Goa. Die Fassade ist vertikal durch drei Treppenhäuser und horizontal durch umlaufende Holzverandas gegliedert. Die Verandabrüstungen setzen sich aus Holzstäben und einer geometrisch perforierten Holztäfelung, der Sonnenschutz darüber aus horizontalen Lamellen und aus dekorativ eingefaßten Glasscheiben zusammen (Abb. 84). Die Abrundungen der östlichen und der westlichen Ecke tragen der städtebaulichen Situation in der Straßengabelung Rechnung (vgl. Lageplan im Anhang). Die Abbildungen 82 und 83 zeigen das Gebäude um 1910 und 1980. Zahlreiche Veränderungen sind ablesbar. Die ehemalige Rustizierung des Erdgeschosses ist durch Vergrößerung der Öffnungen und moderne Ladeneinbauten kaum noch zu erkennen. In den Treppenhäusern wurden Fenster eingebaut und auf dem Dach ein weiteres Geschoß aufgesetzt. Seit 1986 werden die Holzveranden von der Sanierungsbehörde abschnittweise instandgesetzt, da die auskragenden Balken teilweise durchgefault sind. Der südwestliche Abschnitt wurde 1987 fertiggestellt (Abb. 85). Die Gliederung der ehemaligen Brüstung wurde bei dem neuen Geländer wieder aufgenommen, aber die Holztäfelung und der Sonnenschutz wurden nicht wieder montiert. Ähnlich wie bei dem Beispiel zuvor wurde das Gebäude durch diese Sanierungsmaßnahmen seiner entscheidenden architektonischen Merkmale beraubt. Dies ist umso bedauerlicher, als die Brüstungs- und Sonnenschutzelemente selbst gar nicht beschädigt waren, sondern nur die Unterkonstruktion.

4.2. REKONSTRUKTIONEN

Unter Rekonstruktionen ('reconstructions') versteht man solche Sanierungen, die sich nicht nur auf den Austausch oder die Reparatur einzelner Bauelemente beschränken, sondern bei denen, aus wirtschaftlichen oder bautechnischen Gründen, ein Gebäude als Ganzes abgerissen und in etwa gleicher Form, unter Beachtung derzeit gültiger Bauvorschriften, durch einen Neubau ersetzt wird. Rekonstruktionen werden immer von der Sanierungsbehörde durchgeführt, in deren Besitz das Grundstück in solchen Fällen übergeht. Vier Beispiele sollen dieses Prinzip verdeutlichen.

4.2.1. Adarsh Lodge

Das Gebäude Adarsh Lodge liegt im Stadtteil Bhuleshwar im Zentrum der Basarzone. Im Gegensatz zu den meisten Gebäuden der Umgebung war der ursprüngliche Bau nicht in Holzständerbauweise sondern als Mauerwerksbau ausgeführt. Steinsäulen mit Kapitellen und gemauerten Rundbogenarkaden bildeten das konstruktive und formale Gerüst der umlaufenden Veranden in den Obergeschossen. Zusätzlich war die Fassade durch dekorative Elemente aus Stuck reich verziert. 1987 wurde das Gebäude wegen Baufälligkeit abgerissen, um nach dem Prinzip der Rekonstruktion einem neuen Gebäude Platz zu schaffen (Abb. 86). Der Neubau wird als Stahlkonstruktion ausgeführt und nimmt mit geringen Abweichungen den Grundriß des alten Gebäudes wieder auf. Er befindet sich zur Zeit (1988) noch in Bau. Von der Architektursprache des Altbaus bleibt bei diesem Projekt nichts mehr erhalten.

4.2.2. Jahai Ambe House

Ebenfalls als Verlust muß der Abriß und die Rekonstruktion des Jahai Ambe House im Stadtteil Market eingestuft werden. Es war eine der ganz wenigen in Bombay noch erhaltenen Gußeisenfertigteilkonstruktionen, wie sie in einer gewissen Phase nach 1865 populär waren. Die Bauteile dazu waren zum Teil aus England geliefert worden. 104 Die Abbildungspaare 87/88 und 89/90 zeigen das Gebäude jeweils kurz vor dem Abriß (Februar 1987) und während des Neuaufbaus (Mai 1987). Die gußeisernen Geländer waren im Februar 1987 bereits entfernt worden. Man erkennt auf den Vergleichsfotos, daß sich der Neubau in der Anlage eng an den Vorgängerbau anlehnt. Die Stahlstützen stehen in etwa an der gleichen Stelle wie zuvor die gußeisernen. Auch die Abrundung der Gebäudeecke wird beibehalten. Allerdings gehen auch bei dieser Rekonstruktion alle dekorativen Details (Abb. 91) verloren.

4.2.3. Premaji Building

Das Premaji Building an der Kalbadevi Road ist ein Beispiel für eine als Sanierung im herkömmlichen Sinn "getarnte" Rekonstruktion. De facto wird der gesamte Altbau abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Der Form nach ist das Grundstück jedoch zu keiner Zeit unbebaut, und ein vollkommener Abriß hat per Definition nicht stattgefunden. Die Gründe für solche Kunstgriffe wurden bereits erläutert. Abbildung 92 zeigt die Baustelle von der Straße her. Der rückwärtige Teil des Gebäudes steht noch, wird aber nach Fertigstellung des Vorderteils ebenfalls abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. An der Straßenfront erkennt man, mit Tüchern zugehängt, einen Teil der alten Fassade. Sie bleibt stehen, bis der Rohbau der Rekonstruktion abgeschlossen ist, und wird anschließend entfernt. Beim Blick in die Baustelle (Abb. 93) sieht man links die Fassadenwand von innen und in der Mitte die ersten Stahlrahmen des Neubaus. Die geringe Zahl der offiziell registrierten "echten" Rekonstruktionen105 läßt darauf schließen, daß "Scheinrekonstruktionen" unter Umständen sogar die häufiger auftretende Rekonstruktionsform sind.

4.2.4. Bhang Wadi

Ein ähnlicher Fall wie beim Premaji Building liegt beim Vordergebäude des Bhang Wadi vor. Auch hier wurde ein baufälliges Gebäude abgerissen, um durch einen Neubau ersetzt zu werden. Allerdings blieb hier die Fassade nicht nur zur vorübergehenden Wahrung des Scheins stehen, sondern sie soll überhaupt erhalten werden. Es handelt sich um ein Gebäude, das nach der Jahrhundertwende von Gujaratis erbaut wurde. Die Fassade zeigt spitzbogige Fensteröffnungen mit eingestellten Säulen und verschieden ornamentierten Brüstungen. In der Mitte befindet sich ein großer Torbogen, durch den der Zugang zur dahinterliegenden Hofsackgasse erfolgt. Über dem Torbogen steht ein ca. 3,50 Meter hoher steinerner Elefant mit einer Sänfte auf dem Rücken (Abb. 94). Die Fassade ist von ihrer Art und ihrem Aufbau her einmalig in Bombay und ist durch das Identifikationssymbol 'Elefant' auch einfachen Leuten auf der Straße bekannt. Dies mag auch der Grund für den Wunsch zur Erhaltung der Fassade gewesen sein. Abbildung 95 zeigt die Innenseite der Fassade und die ersten Stahlträger des Neubaus. Inzwischen (1988) ist die Rekonstruktion weitgehend abgeschlossen.

4.3. RENDITE-ORIENTIERTE NEUBEBAUUNGEN

Rendite-orientierte Neubebauungen haben mit Rekonstruktionen gemeinsam, daß ein altes Gebäude abgerissen und durch einen Neubau ersetzt wird. Im übrigen gibt es jedoch zahlreiche Unterschiede. Der Abriß des Altbaus erfolgt nicht wegen Baufälligkeit, sondern wegen einer erhofften Kapitalverzinsung. Die Initiative dazu geht von einem privaten Investor aus und nicht von der staatlichen Sanierungsbehörde. Ziel einer Rendite-orientierten Neubebauung ist immer eine maximale Grundstücksausnützung, in der Regel durch ein Hochhaus, während eine Rekonstruktion in erster Linie ein altes Gebäude durch einen Neubau von ähnlicher Größe und Anlage zu ersetzen versucht. Die Mieter werden im einen Fall vorübergehend umgesiedelt, verlieren aber nicht ihr Wohnrecht; im anderen Fall wird versucht, sie durch Abfindungszahlungen und durch das Angebot einer Ersatzwohnung zum freiwilligen Auszug zu bewegen. Rendite-orientierte Neubebauungen beschränken sich, vor allem wegen der Schwierigkeiten bei der Mieterabfindung und wegen der höheren Immobilienpreise, auf freistehende Einzelgebäude in besseren Wohngegenden mit einer geringen Zahl von Mietparteien. Solche Wohngegenden sind Colaba, Malabar Hill, Mahalakshmi und der südliche Teil von Worli. Daß bei Rendite-orientierten Projekten zum Teil (im Sinne der Denkmalpflege) sehr wertvolle Baudenkmale verlorengehen, zeigt besonders das erste der beiden folgenden Beispiele.

4.3.1. Barodawalla Bungalow (Nr.1c Altamont Road)

Auf einem der höchsten Punkte von Malabar Hill stand bis vor wenigen Jahren ein herausragendes Beispiel eines Bungalows in europäisch-indischem Mischstil. Es handelte sich um einen Holzbau auf einem gemauerten Sockelgeschoß aus der Zeit um 1870 (Abb. 96). Die Außenwand des Sockelgeschosses war durch kanellierte Pilaster und spitzbogige Fensteröffnungen gegliedert. Die Fenster hatten Ansätze eines gotischen Maßwerks mit freier Abwandlung durch kreisrunde Öffnungen im Bogenfeld. In den Obergeschossen befand sich je ein durchlaufendes Fensterband über einer holzgetäfelten Brüstungszone. Horizontale Holzlamellen in dekorativer Einfassung sorgten für eine Durchlüftung. Ein westlicher Vorbau überdachte den Eingangsbereich und war zusätzlich durch Holzschnitzereien verziert. Insgesamt 3 Mietparteien mit zusammen 12 Personen wohnten in dem Gebäude, als es Ende der siebziger Jahre von einem Investor aufgekauft wurde. Der Abriß erfolgte im Oktober/November 1979. Abbildung 97 zeigt das gleiche Grundstück mit seiner heutigen Bebauung durch ein 13-geschossiges Hochhaus.

4.3.2. Bansilal Villa

Ein ähnlicher Vorgang konnte von uns in Colaba dokumentiert werden. Betroffen war eine freistehende Villa, die 1908 auf ehemals aufgeschüttetem Gelände errichtet worden war. Zu ihren architektonischen Merkmalen gehörten eine symmetrische Anlage mit einem Mittelrisalit und betonten Eckrisaliten. Die zurückspringenden Flächen der Nordwestfassade waren durch Holzrahmen und teilweise farbige Glasfenster gefüllt (Abb. 98, 99, 100). In der Mitte des Gebäudes befand sich ein Innenhof, der ringsum mit Holz ausgekleidet war. 1985 wechselte das Gebäude den Besitzer. Allen vier Mietparteien wurden finanzielle Angebote gemacht, um sie zum Umzug in neuere Hochhauswohnungen zu bewegen. Ein Mieter zögerte, da die größte der angebotenen Wohnungen nur die Hälfte der Grundfläche der bisherigen Wohnung hatte. Er konnte aber im April 1987 ebenfalls zum Umzug veranlaßt werden. Im Mai 1987 wurde das Gebäude abgerissen (Abb. 101). Die Bansilal Villa stand auf einem Erbpachtgrundstück und hätte laut Vertragsbedingungen nicht abgerissen werden dürfen. 106 Ebenso wäre die Bebauung mit einem Hochhaus, wie sie seither erfolgt, durch die Geschoßflächenzahlbegrenzung rechtlich nicht möglich. Die Erklärung für diese Vorgänge müssen entsprechend den früher gemachten Andeutungen im außerlegalen Bereich gesucht werden.

4.4. AUFSTOCKUNGEN UND ÜBERBAUUNGEN

Aufstockungen und Überbauungen sind eine Spezialität in Bombay. Man findet sie in großer Zahl und in fast allen Stadtteilen. Ihre äußere Erscheinung nimmt teilweise groteske Formen an. Die Gründe, warum alte Gebäude aufgestockt oder mit neuen Gebäuden überbaut werden, sind unterschiedlich. In Einzelfällen sind zusätzlicher Raumbedarf und der Mangel an freiem Baugelände die auslösenden Faktoren. In den meisten Fällen handelt es sich jedoch auch hier um Spekulationsprojekte. Drei Beispiele sollen dies aufzeigen.

4.4.1. Swami Prempuri Ashram Trust Building

Wie aus dem obigen Namen hervorgeht, handelt es sich bei diesem Gebäude um einen Ashram, d. h. ein Zentrum religiöser Unterweisung. Es gehört einer brahmanischen Stiftung und befindet sich im Stadtbezirk 'D' im Übergangsbereich zwischen der Basarzone und Malabar Hill. Aus dem Grundriß (Abb. 102) läßt sich seine Lage auf einem spitzen Eckgrundstück ablesen. Ursprünglich hatte das Gebäude nur zwei Geschosse und eine Natursteinfassade. 1976 wurde es unter Ausnützung des bestehenden Tragwerks um ein Geschoß aufgestockt. Eine weitere Zunahme des Raumbedarfs, insbesondere der Bedarf an einem größeren Mehrzweckraum für den Ashram, führte 1983 zu einer nochmaligen Aufstockung um drei Geschosse. Im Gegensatz zur ersten Aufstockung handelte es sich beim zweiten Mal um eine statisch völlig unabhängige Überbauung. Die Lastabtragung des Überbaus übernahmen Betonstützen, die peripher um den Altbau angeordnet wurden (siehe Grundrisse Abb. 103 und 104). Die Stützabstände richteten sich dabei ungefähr nach dem Fensterraster des Altbaus. Um dem Altbau und der Überbauung ein einheitliches Erscheinungsbild zu geben, wurden Betonfertigteilbögen zwischen den Stützen montiert. Der Altbau wird dadurch nur noch als Füllung hinter der Betonkonstruktion wahrgenommen (Abb. 105). Obwohl das alte Gebäude bei dieser Überbauung seine architektonische Wirksamkeit und Eigenständigkeit verloren hat (vgl. Abb. 106), nahm die neue Konstruktion sehr viel mehr Rücksicht auf den Altbau als in den folgenden Beispielen. Auch der Versuch einer architektonischen Gesamtkonzeption muß als eine Ausnahme vermerkt werden.

4.4.2. Villa in Colaba, jetzt Monica Residential Flats

Nicht zusätzlicher Raumbedarf, sondern Spekulation und Profitorientierung sind der Hintergrund der Überbauung in diesem Beispiel. Es handelt sich um eine freistehende Villa aus der Zeit um 1910 in Colaba. Obwohl das Gebäude in seiner Gesamtheit keine architektonische Besonderheit darstellt, ist es doch ein typischer Vertreter seines Bautyps aus der entsprechenden Zeit. Formal zeigt es im wesentlichen Stilelemente der islamischen Architektursprache: überhöhte Spitzbögen, sternförmige Fensteröffnungen (Abb. 112) und geometrisch durchbrochene Steingitter an den Brüstungen (Abb. 111). Besitzer der Villa ist ein Privatmann, der nicht das alte Gebäude selbst, sondern den Luftraum darüber an einen Immobilienmakler und eine Baufirma verkauft hat. Letztere errichten seit 1986 über der Villa ein neungeschossiges Hochhaus (Abb. 109 und 110). Grundriß, Anordnung und Konstruktion der Überbauung sind von dem Altbau völlig unabhängig (Abb. 107 und 108). Siebzehn Betonstützen durchdringen die Villa an beliebigen Stellen ohne funktionale Rücksichtnahmen (vgl. Abb. 112). Die Villa ist aus der Sicht der Investoren ein Hindernnis. Da es sich jedoch auch hier um ein Gebäude auf einem Erbpachtgelände handelt, muß es gemäß Vertragstext erhalten werden. Damit sich das Projekt für die Investoren lohnt, wurden bei der Berechnung der Geschoßflächenzahl alle Möglichkeiten zahlenmäßiger Manipulationen ausgeschöpft. Rechtlich zulässig wäre eine Geschoßflächenüberbauung von 1,33. Der Altbau allein nimmt davon schon 0,88 in Anspruch. Es blieben noch eine GFZ von 0,45 oder 425 mē zur weiteren Bebauung übrig. Auf Nachfragen zeigte uns jedoch der Bauunternehmer, daß die Bauanträge 1976 datiert waren. Vor 1977 betrug die zulässige Geschoßflächenüberbauung noch 2,45. Tatsächlich wurde uns dann auch eine Flächenberechnung gezeigt, die eine GFZ von 2,449 ergab. Das Gebäude wurde von uns vermessen. Setzt man die gemessenen Flächen der neun Neubaugeschosse (à 275 mē) und der zwei Altbaugeschosse (à 415 mē) ins Verhältnis zur Grundstücksgröße (945 mē), ergibt sich jedoch eine Geschoßflächenzahl von 3,5, annähernd das Dreifache des gegenwärtig zulässigen Wertes. Da ähnliche Grundstücksüberbauungen überall in der Stadt beobachtet werden können, muß man davon ausgehen, daß solche Manipulationen routinemäßig vorgenommen werden.

4.4.3. Shuresh Bhavan

Das dritte Beispiel einer Überbauung erhält seine Brisanz nicht durch die Manipulation von Flächengrößen, sondern durch seinen Eingriff in ein architektonisch und städtebaulich sensibles Ensemble innerhalb einer geschlossenen Uferbebauung in Chowpatty. Das Gebäude Shuresh Bhavan bildet den östlichen Abschluß in einer Reihe von sechs gleichartig gestalteten Gebäuden, die auf dem Gelände der ersten Neulandgewinnung entlang der Back Bay nach Entwürfen englischer Architekten errichtet wurden (Abb.113). Die ganze Reihe entstand um 1910 und ist ein herausragendes Beispiel der Kolonialarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts. Durch ihre Lage im nördlichen Scheitelpunkt der Back Bay sind die Gebäude weithin sichtbar und stellen eine wichtige Raumkante der städtischen Bebaung dar. Ähnlich wie beim vorhergehenden Beispiel hat ein Bauunternehmer dem Gebäudeeigentümer das Recht der Überbauung abgekauft und begonnen, über dem westlichen Gebäudeteil ein Betonskelett für zusätzliche Geschosse zu errichten (Abb. 114). Wie die Pfahlgründungen rings um das bestehende Gebäude zeigen, ist beabsichtigt, den ganzen Bau mit einem Betongerüst zu umgeben. Dies würde den runden Turm auf der Ostseite mit einschließen, der bis jetzt noch den Beginn der kolonialen Häuserzeile markiert und gleichzeitig die Ecksituation an einer Straßeneinmündung räumlich definiert. Das Beispiel dieses Vorhabens zeigt einmal mehr die Polarität zwischen der Eigendynamik einer unkontrollierten Entwicklung und einer mangelnden planerischen und gesetzgeberischen Handhabung, wie sie für Bombay schon immer charakteristisch war.

4.5. ANBAUTEN, UMBAUTEN, MODERNISIERUNGEN

Veränderungsprozesse im kleineren Maßstab sind bei Bauwerken sozusagen etwas Natürliches und betreffen Baudenkmale in Bombay ebenso wie andernorts. Sie treten an fast jedem Gebäude auf, unterscheiden sich allerdings durch ihren Grad der Veränderung und Beeinträchtigung der architektonischen Substanz. Einige wenige Beispiele sollen hier stellvertretend für die große Zahl solcher Prozesse stehen.

4.5.1. Bhaskar und La Kozy Mansions

Ähnlich wie in westlichen Städten vollziehen sich Veränderungen auch in Bombay häufig im kommerziellen Bereich, etwa bei Geschäftseinbauten oder Ladenfassaden. Das Gebäude Bhaskar Mansion am Westrand der Basarzone ist ein Bau aus dem Jahr 1916 in historistischem Kolonialstil mit symmetrisch angelegter Fassade. Ein zurückgesetzter Mittelteil mit Loggien und Rundbogenarkaden sowie zwei Seitenrisalite mit gesprengten Segmentgiebeln, Rustikaquaderung und je drei übereinander angeordneten Balkonen gliedern die Fassade in den Obergeschossen (Abb. 115). Die Sockelzone im Erdgeschoß wurde als Ladenfront eines Juweliergeschäftes modernisiert. Zwei große polierte Marmorflächen sind die dominierenden Elemente dieser Zone. Den Seitenresaliten fehlt durch eine scheinbare Verschiebung dieser Flächen zur Mitte hin die optische Basis, und das Gleichgewichtsempfinden ist gestört.

Ebenfalls modernisiert wurde die Ladenfront des Gebäudes La Kozy Mansion an der Uferstraße von Chowpatty (Abb. 116). Das Gebäude wurde zwischen 1883 und 1886 errichtet und zeichnet sich durch eine sehr reich dekorierte Fassade aus. Fein durchbrochene Steingitterbalustraden, Blattornamentkonsolen und geometrische Reliefmuster gehören zu den architektonischen Merkmalen. Die Fassade im Erdgeschoß war ursprünglich durch Halbsäulen und Rundbogen gegliedert, wurde aber inzwischen mit einem horizontalen Band und rechteckigen Pfeilern verkleidet. Weiter fällt an dieser Fassade die Verunstaltung durch große Firmenschilder auf, die einige Architekturelemente, wie z.B. den halbzylindrischen Balkon mit reich skulptierter Konsole und halbkuppelförmiger Abdeckung im 2. Obergeschoß, ganz oder teilweise verdecken (Abb. 117).

4.5.2. Banoo Mansions und Magistrate Court

Zwei nahezu identische Baumaßnahmen, nämlich jeweils der Anbau eines Aufzugsschachtes, verbinden die beiden folgenden Beispiele. Banoo Mansions, ein Gebäude in Malabar Hill, wurde 1911 gebaut. Halbsäulen mit korinthischen Kapitellen, Rustika-Quaderung, ein Erker und ein turmartiger Ausbau an der Südwestecke sind Kennzeichen der historistischen Fassade. Eine Königskrone auf dem Turm erinnert an den Besuch von König George V. in Bombay im Erbauungsjahr. Das Gebäude wird von Parsen bewohnt und gehört seit 1970 einer Mieterkooperative. Wegen der Körperbehinderung eines Mieters wurde 1983/84 vor der Süfassade ein Aufzugsschacht aus Beton errichtet (Abb. 118). Er beeinträchtigt das Erscheinungsbild der Architektur in erheblichem Maße.

Das Magistrate Court Gebäude, 1888 vollendet, gehört zu der Serie der großen öffentlichen Bauten, die auf der Esplanade in neugotischem Stil errichtet wurden. Erwähnenswert sind vor allem die besonders herausragenden skulptierten Ornamente aus Stein (von einheimischen Steinbildhauern geschaffen), ein Erker mit reich verzierter Konsole an der Südwestfassade und ein Treppenhaus aus Gußeisen und Holz. In ähnlicher Weise wie beim vorhergehenden Beispiel wurde vor der Hauptfassade ein neuer Aufzugsschacht aus Beton errichtet (Abb. 119). Allerdings ist er hier nicht von der Fassade abgesetzt, sondern durchschneidet sie in solcher Weise, daß ein Spitzbogen samt Fünfpaß mitten entzwei geteilt werden. Entsprechend der architekturgeschichtlichen Bedeutung dieses öffentlichen Gebäudes hätte eine sensiblere Vorgehensweise erwartet werden können.

4.5.3. Western Railways Headquarters

Das letzte Beispiel eines An- bzw. Umbaus betrifft ebenfalls eines der öffentlichen Gebäude auf der Esplanade, nämlich das Verwaltungsgebäude von Western Railways, entworfen von F. W. Stevens und vollendet 1899. Zunächst unbemerkt, da auf der Rückseite des Gebäudes, begann die Eisenbahngesellschaft Western Railways im Frühjahr 1987 mit der Erweiterung und Aufstockung eines bereits existierenden Anbaus aus dem Jahre 1965 (Abb. 120). Nach der Entdeckung dieses Vorgangs durch das Save Bombay Committee wurde darüber öffentlich in den Medien berichtet.107 Es stellte sich heraus, daß weder für die Erweiterung ein Bauantrag gestellt noch an der Planung ein Architekt beteiligt worden war. Die Eisenbahngesellschaft, die zunächst eine Stellungnahme abgelehnt hatte, argumentierte schließlich so, daß sie bei Baumaßnahmen für Eisenbahnbetriebszwecke souverän sei und daß eine Baugenehmigung deshalb nicht eingeholt werden müsse... Im übrigen sei sie um die historische Architektur der Stadt sehr besorgt und könne darauf verweisen, daß das Gebäude von Western Railways Headquarters "eines der am besten instandgehaltenen Bauwerke in der Stadt" sei.108 Das Save Bombay Committee sieht hier einen Präzedenzfall und will nun die Gerichte entscheiden lassen.