3. GEGENWÄRTIGE SITUATION DER HISTORISCHEN BAUSUBSTANZ

3.1. ALLGEMEINE BEMERKUNGEN

In diesem Kapitel soll es um die bauliche Situation, vor allem aber auch um die Einflußfaktoren gehen, die auf Verfall und Abriß bzw. die Erhaltung von Baudenkmalen einwirken. Als 'Baudenkmale' oder 'historische Bausubstanz' bezeichne ich solche Bauten, die für eine nähere Überprüfung im Hinblick auf ihre Erhaltungswürdigkeit im Sinne der Denkmalpflege in Betracht kommen.

Die Maharashtra Housing & Area Development Authority (MHADA [siehe Abschnitt 3.2.3.], im folgenden als 'Sanierungsbehörde' bezeichnet) bezifferte 1986 die Zahl der Wohnbauten, die vor dem 1. September 1940 errichtet wurden, mit 16 5O2.73 Eine weitere Aufschlüsselung nach Alter und Zahlenangaben über öffentliche und gewerbliche Bauten liegen nicht vor. Von der Gesamtzahl der Altbauten stuft der Indian National Trust (siehe Abschnitt 3.2.6.1.) ca. 400 als 'historisch' im Sinne von Baudenkmalen ein. 74 Nach einer Untersuchung der Sanierungsbehörde von Maharashtra sind 80 % aller Altbauten, darunter auch ein großer Teil der erhaltenswerten Bauten, baufällig und sanierungsbedürftig.75 Dabei muß man grundsätzlich zwischen öffentlichen Bauten und privaten Wohnbauten unterscheiden. Die meisten der privaten Wohnbauten (in der Regel Mietshäuser) waren von Investoren als Renditeobjekte aus nur begrenzt dauerhaften Materialien errichtet worden. Am verbreitetsten waren Mischkonstruktionen aus Teakholz-Ständerbauweise und tragendem Backsteinmauerwerk. Viele dieser Konstruktionen haben inzwischen ihre Tragfähigkeit eingebüßt. Die Folge ist, daß zur Zeit jährlich ca. 120 Gebäude auf der Insel Bombay einstürzen und dabei jedes Mal eine größere Zahl von Menschen zu Schaden kommt.76

Anders ist die Situation der meisten öffentlichen Gebäude. Sie wurden in der Regel aus dauerhaften Materialien - meistens Werkstein - errichtet und sind statisch in gutem Zustand. Für ihren Unterhalt und Reparaturen wird regelmäßig gesorgt, so daß ihre Zukunft, was ihren Erhaltungszustand anbetrifft, bis auf weiteres nicht in Frage gestellt ist.

3.2. EINFLUSSFAKTOREN

Vielerlei Faktoren haben Einfluß auf die Situation der historischen Bausubstanz in Bombay. Das Klima, die Verfügbarkeit finanzieller Mittel und das Gebäudeinstandsetzungswesen wirken sich auf die bauliche Situation, Miet- Bau- und Bodenrecht auf die rechtliche Situation und die Aktivitäten einzelner Gruppen und Institutuionen sowie die Mehrheitsverhältnisse bei Stadt- und Landesregierung auf die politische Situation aus. Alle Faktoren zusammen, verbunden mit den Mechanismen von Korruption, Spekulation und wirtschaftlicher Eigendynamik bilden ein komplexes Beziehungsgeflecht, das in seiner Gesamtheit die Randbedingungen für die historische Bausubstanz ergibt.

Im folgenden soll durch eine jeweils kurze Beschreibung einzelner Faktoren und durch die Andeutung bestehender Abhängigkeiten versucht werden, die Situation der historischen Bausubstanz als Ganzes zu erfassen.

3.2.1. Klima

Im wesentlichen gibt es zwei klimatische Bedingungen, die sich auf die Standfestigkeit von Gebäuden negativ auswirken. Das sind zum einen die extrem hohe Niederschlagsmenge während der Monsunzeit und zum anderen die sehr hohe Luftfeuchtigkeit, verbunden mit einem starken Salzgehalt der Luft aufgrund der Nähe zum Meer.

Die meisten der ca. 120 jährlichen Gebäudezusammenbrüche ereignen sich während der Monsunregen. Zum Teil sind es einzelne statisch wirksame Bauteile, die bei längerer Durchfeuchtung ihre Tragfähigkeit verlieren. Betroffen sind vor allem Pfosten und Deckenbalken aus Teakholz. Die Pfosten sind meist in einer Wand eingemauert und von außen nicht sichtbar, so daß sich der Prozeß des Durchfaulens oft unbemerkt vollzieht. Bei den Deckenbalken sind die kritischen Bereiche in der Nähe der Auflager. Besonders gefährdet sind solche Balken, die wegen eines Balkons oder einer Veranda aus einer Wand auskragen. Oft sammelt sich dort Regenwasser und dringt entlang der Kragbalken auf die Innenseite ein. Viele Gebäude sieht man, bei denen alle Kragbalken auf der Außenseite schon verfault und die Balkone abgefallen sind. Oft ist es dann nur ein Frage der Zeit, bis die Balken auch im Gebäudeinneren verrottet sind und brechen (Abb. 69 und 70). Neben den Holzteilen verliert auch das Mauerwerk bei länger anhaltender Durchfeuchtung während der Regenzeit seine Tragfähigkeit. Kritisch sind auch hier wieder die Auflagerbereiche der Deckenbalken, sofern diese nicht durch besondere Auflagersteine verstärkt sind. Bei den gemauerten Wänden kündigt sich ein bevorstehender Kollaps meistens durch eine Aufwölbung oder Ausbauchung der Wandfläche an. Eine weitere Gefahr durch Regenwasser droht den Fundamenten. Besonders in den tiefliegenden Teilen der Stadt, die während des Monsuns vorübergehend überflutet werden, kommt es immer wieder vor, daß ganze Gebäude unterspült werden und einstürzen. Oft kann auch die Kanalisation die Menge des abfließenden Wassers nicht fassen, beziehungsweise das Wasser dringt durch Lecks im Rohrsystem wieder nach außen und greift die Fundamente von Gebäuden direkt von unten her an.

Die hohe Luftfeuchtigkeit und der Salzgehalt der Luft wirken sich weniger auf Holz und Mauerwerk als auf Metallteile aus. Metall hat statische Funktionen in erster Linie in Form von Betonarmierungen (bei Gebäuden ungefähr ab dem 1. Weltkrieg) und in Form von Gußeisenkonstruktionen (bei Gebäuden zwischen ca. 1865 und der Jahrhundertwende; vgl. Anhang Nr. 5, Nr. 40 und Nr. 87). Nicht nur bei Altbauten, sondern auch bei Gebäuden jüngeren Datums tritt immer wieder das Problem zu geringer Betonüberdeckung auf. Die Armierungseisen sind dadurch vor Luft und Feuchtigkeit zu wenig geschützt und beginnen zu korrodieren, was durch die salzhaltige Luft noch verstärkt wird. Durch den Rostansatz platzen schließlich Betonteile ab, die Eisen werden freigelegt und der weitere Korrosionsprozeß beschleunigt sich. In der Regel kann hier mit lokalen Sanierungsmaßnahmen Abhilfe geschaffen werden. Schwieriger zu behandeln sind dagegen Korrosionsschäden an Gußeisenkonstruktionen. Normalerweise lassen sich Gußeisenteile durch einen regelmäßigen Farbanstrich gut vor Korrosion schützen. Leider mangelt es jedoch vielfach an solchen Unterhaltungsmaßnahmen, so daß im ungünstigsten Fall stark korrodierte Teile komplett ausgetauscht werden müssen. Damit verbunden ist oft der Verlust von architekturgeschichtlich wertvollen Bauteilen (vgl. Abschnitt 4.2.2.).

3.2.2. Alterung

Nicht nur unmittelbare Klimaeinflüsse, sondern auch allgemeine Alterungserscheinungen beeinflussen den baulichen Zustand von Gebäuden. Hierzu zählen unter anderem das Undichtwerden von Wasser- und Abwasserleitungen und generelle Materialermüdungen. Undichte Rohrleitungen haben in etwa dieselben Auswirkungen wie die Durchfeuchtung durch Regenwasser. Da in den meisten Mietshäusern die Wasserzapfstellen und die Latrinen räumlich zusammengefaßt sind und nicht jede Wohnung eigene Anschlüsse hat, konzentrieren sich die Schäden durch undichte Rohre meistens auf den Latrinenblock. Verrottete Balken, durchgerostete Stahlträger und ausgebauchte, von Schimmel befallene Wände findet man hier besonders häufig. Bei unseren Gebäudebesichtigungen fiel auf, daß solche Schäden auch teilweise kurze Zeit nach erfolgten Sanierungsmaßnahmen auftraten (Näheres dazu unter Abschnitt 3.2.3.2.).

Allgemeine Materialermüdungen betreffen vor allem die Festigkeit von Mörtel. Ein häufig auftretender Schadensfall ist das Einbrechen von gemauerten Fensterstürzen aufgrund von spröde und brüchig gewordenem Mörtel. Auch die Tragfähigkeit ganzer Mauerverbände wird durch solche Erscheinungen beeinträchtigt. Oft ist es die Kombination von Altersschwäche und exzessiver Nutzung (z.B. vollgestopfte Warenlager in oberen Geschossen oder Inbetriebnahme stark vibrierender Maschinen), die letztendlich zu einem Zusammenbruch führen.

3.2.3. Sanierungssystem

3.2.3.1 Entstehung

Hauszusammenbrüche gibt es in Bombay schon seit einigen Jahrzehnten. Hauptursache sind mangelhafte Unterhaltung und Instandsetzung der Gebäude durch die Hausbesitzer. Wie sich noch zeigen wird (Abschnitt 3.2.4.), ist dies vor allem auf das neue Mietrecht zurückzuführen, das nach der Erlangung der indischen Unabhängigkeit 1947 eingeführt wurde und das die Mieten für Altbauten auf dem Niveau von 1940 einfror. Bis heute wurde das Mietrecht nicht angepaßt, und die Mieten sind inzwischen lächerlich gering, die Einkommen der Hausbesitzer aus Mieteinnahmen entsprechend niedrig und unattraktiv. Die meisten Vermieter haben das Interesse an der Erhaltung ihrer Gebäude verloren, oder die Einnahmen sind zu gering, um sie zu finanzieren. Anfang der sechziger Jahre nahm die Zahl der Hauszusammenbrüche erschreckende Ausmaße an und rief allgemeine öffentliche Kritik hervor. 1964 richtete die Landesregierung von Maharashtra einen Untersuchungsausschuß ein (in der Öffentlichkeit unter dem Namen Bedekar Komittee bekannt), der die Ursachen für diese Entwicklung feststellen sollte. Der Ausschuß veröffentlichte seinen Untersuchungsbericht ein Jahr später und machte darin einige konkrete Empfehlungen. Unter anderem schlug er vor, innerhalb der Stadtverwaltung von Bombay eine eigene Behörde unter der Leitung eines Bürgermeisters einzurichten, die sich mit der Zerstörung, dem Wiederaufbau und der Instandsetzung alter Gebäude befassen sollte. Zusätzlich sollte die Unterbringung der vorübergehend obdachlosen Bewohner in Übergangslagern ('transit camps') in ihre Verantwortung fallen. Die Empfehlungen des Ausschusses wurden von der Regierung von Maharashtra im Ganzen übernommen und 1969 als `Bombay Building Repair & Reconstruction Board Act'77 in Form eines Gesetzes erlassen. Eine entsprechende Behörde wurde im gleichen Jahr eingerichtet, 78 allerdings nicht als Teil der Stadtverwaltung, sondern als Landesbehörde. Ein weiteres Gesetz ('Maharashtra Housing and Area Development Act', 1976) vereinigte diese am 5.12.1977 mit den Behörden für Siedlungsentwicklung und Wohnungsbau (gegründet 1948) und der Behörde für Slum-Verbesserung (gegründet 1974) zur 'Maharashtra Housing and Area Development Authority' (Behörde für Wohnungswesen und Siedlungsentwicklung - in Bombay allgemein 'Repair Board' und von mir Sanierungsbehörde genannt).

3.2.3.2 Funktion

Die Hauptaufgabe der Sanierungsbehörde auf der Insel Bombay besteht darin, den Häuserzusammenbrüchen entgegenzuwirken.

1969 wurden alle Wohngebäude mit Mietwohnungen auf der Insel Bombay zahlenmäßig erfaßt und nach Alter und Bauzustand in Kategorien eingeteilt. Demnach waren 16.502 Gebäude vor dem 1. September 1940 (Kategorie A), 1489 Gebäude zwischen dem 1. September 1940 und dem 31. Dezember 1950 (Kategorie B) und 1651 Gebäude nach dem 1. Januar 1950 (Kategorie C) errichtet worden.79 Ca. 9.000 der erfaßten Gebäude wurden als dringend sanierungsbedürftig eingestuft und auf eine Prioritätsliste gesetzt, ca. 1.200 Bauten wurden als nicht mehr sanierungsfähig bewertet.80 Nicht erfaßt wurden ausschließlich gewerblich genutzte Bauten, öffentliche Bauten, Wohnhäuser, in denen nur der Besitzer wohnte81 und Wohnhäuser im Besitz von Wohnungskooperativen. Für alle diese Bauten wurde angenommen, daß die Besitzer oder Nutzer genügend Interesse an einer Instandsetzung der Gebäude hätten und auch über ausreichende finanzielle Mittel verfügten, um entsprechende Maßnahmen durchführen zu lassen. Hier war eine Zuständigkeit der Sanierungsbehörde nicht vorgesehen. Für alle Mietwohnungsbauten übernahm jedoch die Sanierungsbehörde die Verantwortung für Inspektionen und Instandsetzungsmaßnahmen mit weitreichenden Befugnissen und Kompetenzen (z.B. unter bestimmten Bedingungen das Recht der Enteignung). Um die weiteren Maßnahmen der Sanierungsbehörde zu finanzieren, wurde mit Inkrafttreten des 'Bombay Building Repair & Reconstruction Board Act' am 1.10.1969 eine Sanierungssteuer ('repair cess') eingeführt, die von allen Mietern und Hausbesitzern der erfaßten Mietwohnungsbauten erhoben wird. Die Höhe der Steuer hängt erstens von der Alterskategorie der Gebäude (A, B oder C) ab und zweitens von der Tatsache, ob und bis zu welchem Betrag (in Rupien pro Quadratmeter) die Sanierungsbehörde schon einmal zur Instandsetzung des Gebäudes finanziell beigetragen hat. Die Steuerhöhe wird in Prozent des Verkehrswertes pro Jahr angegeben, wobei der Verkehrswert ('rateable value') eine bestimmte errechnete Größe ist, die sich von der Geschoßfläche und dem Gesamtmietaufkommen ableitet. Der niedrigste Steuersatz (Gebäude der Kategorie C ohne bisherige Sanierungsmaßnahmen) beträgt 22 % des Verkehrswertes, der höchste Steuersatz (Kategorie A mit erfolgten Sanierungsmaßnahmen, die bis zu 500 Rs/mē subventioniert wurden) beträgt 130 %. Die Steuer wird auf alle Mieter umgelegt, wobei gewerbliche Mieter einen doppelten Anteil bezahlen.82 1986 deckte die Sanierungssteuer 32 % der Instandsetzungskosten (76 Millionen Rupien), den Rest finanzierten das Land Maharashtra (124 Mill. Rs) und die Stadt Bombay (36 Mill. Rs).

Im einzelnen geht die Sanierungsbehörde bei ihren Maßnahmen wie folgt vor. Jedes Jahr, schwerpunktmäßig vor Beginn des Monsuns, werden Gebäude auf ihre Standfestigkeit hin überprüft. Diese Inspektionen werden in Zusammenarbeit mit der Bauaufsichtsbehörde der Stadt Bombay durchgeführt, sind aber nicht flächendeckend. Die genauen Kriterien für die Auswahl der Gebäude sind nicht bekannt, aber es wird auf jeden Fall Hinweisen von Bewohnern, Hausbesitzern und Sozialarbeitern auf Anzeichen von Baufälligkeit nachgegangen. Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden stadtbezirksweise Dringlichkeitslisten für Maßnahmen zusammengestellt. In besonders kritischen Fällen werden sofortige Notabstützungen durch die Stadt Bombay vorgenommen oder sogar Räumungsverfügungen erlassen. Für jedes baufällige Gebäude wird ein bei der Sanierungsbehörde registrierter Architekt beauftragt, ein Gutachten zu erstellen. Dabei ist insbesondere eine Kostenschätzung für die Sanierung vorzunehmen, von der die weitere Vorgehensweise abhängt. Bleiben die geschätzten Kosten unterhalb eines festgesetzten Grenzwertes ('ceiling limit', z.Zt. 500 Rs/mē)83, kann mit der Planung und Ausschreibung der Sanierungsarbeiten begonnen werden. Die Kosten werden in diesem Fall in voller Höhe von der Sanierungsbehörde übernommen. Nach gesetzlicher Vorschrift erhält die Baufirma, die das niedrigste Angebot einreicht, den Zuschlag. Überschreiten die geschätzten Kosten den Grenzwert, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Wenn sich Besitzer und/oder Mieter bereiterklären, die über den Grenzwert liegenden Kosten selbst zu bezahlen, kann ebenfalls eine Sanierung in Angriff genommen werden. Zu diesem Zweck werden unter Umständen Mieterkooperativen gebildet, die mit ihrer Finanzierungsbeteiligung auch einen Anteil am Grundbesitz erwerben. Besteht die Bereitschaft zur Kostenbeteiligung nicht oder ist ein Gebäude in so schlechtem Zustand, daß sich eine Instandsetzung nicht mehr lohnt, wird das Gebäude von der Sanierungsbehörde für irreparabel ('beyond economical repairs') erklärt und in ein sogenanntes Rekonstruktionsprogramm ('reconstruction scheme') aufgenommen. Eine Rekonstruktion unterscheidet sich grundsätzlich von einer Instandsetzung. Augenfälliger Unterschied ist der, daß bei einer Rekonstruktion das baufällige Gebäude abgerissen und ein völlig neues Gebäude errichtet wird. Darüber hinaus bestehen jedoch noch zahlreiche Unterschiede im Detail. Zum Beispiel geht der Grundbesitz bei einer Rekonstruktion grundsätzlich an die Sanierungsbehörde über, indem das Land vom früheren Besitzer zu einem festgesetzten Preis aufgekauft wird. Des weiteren unterliegt ein derartiger Neuaufbau den gegenwärtig gültigen Bauordnungen ('building bye laws') und Bebauungsvorschriften ('development control rules'). Diese regeln im einzelnen die Geschoßflächenzahl, Hausabstände, Baulinien und Wohnungsgrößen. Da die gegenwärtig gültige maximale Geschoßflächenzahl wegen der starken Verdichtung auf der Insel Bombay 1977 von 2,45 (zum Teil 3,5) auf 1,33 gesenkt wurde,84 die durchschnittliche Ist-Bebauung auf der Insel Bombay jedoch 4,0 beträgt und somit bei einer Rekonstruktion sehr viel Wohnraum verloren gehen würde, wurde hier eine Ausnahme zugelassen. Die Sanierungsbehörde darf bei Rekonstruktionen den 2,4 fachen Wert der maximal zulässigen Geschoßflächenzahl (d.h. eine GFZ von 3,2) ausnützen. 85 Von den übrigen Regeln (Abstände, Rücksprünge etc.) gibt es jedoch keine Ausnahmen. Von Bedeutung sind hier vor allem auch die Vorschriften für Wohnungsgrößen. Die Mindestgröße für eine Einraumwohnung beträgt bei Gemeinschaftslatrine 14,86 mē (160 sq.ft.) und bei privatem W.C. 16,72 mē (180 sq.ft.). Die bestehenden Altbauwohnungen sind jedoch fast alle kleiner. Umgekehrt gibt es eine Flächenbegrenzung nach oben von 68 mē, während in den Altbauten auch in den dichtest besiedelten Zonen vereinzelt Wohnungen von 150 bis 200 mē zu finden sind (z.B. die Wohnungen ehemaliger oder gegenwärtiger Hausbesitzer).86 Demnach bringt eine Rekonstruktion immer eine größere Veränderung baulicher und räumlicher Art mit sich, die von den meisten Beteiligten als Nachteil empfunden wird. Die Hausbesitzer verlieren ihr Grundstück, die Mieter können meistens nicht mehr alle untergebracht werden und müssen außerdem während der Bauzeit in Übergangslagern in den Vororten wohnen, gewerbliche Mieter bekommen überhaupt kein Nutzungsrecht mehr. Zudem bedeutet eine Rekonstruktion fast immer eine Mieterhöhung. Die Sanierungsbehörde verlangt eine Miete von 0,40 Rupien pro Quadratfuß für Wohnungen mit Gemeinschaftslatrine und 0,50 Rupien pro Quadratfuß für Wohnungen mit eigenem W.C. Das ergibt z.B. für eine Einraumwohnung mit W.C. und der Mindestgröße von 16,72 mē eine Monatsmiete von 90 Rupien. Vorher bezahlten die Mieter jedoch zum Teil Mieten zwischen 7 und 15 Rupien.87 Dies alles sind einige der Gründe, warum Rekonstruktionen nicht zu den favorisierten Sanierungsmaßnahmen gehören. Dies schlägt sich auch in der Statistik nieder. Bis zum 31.10.1986 wurden 9.861 Gebäude instandgesetzt, dagegen nur 186 Gebäude 'rekonstruiert'.88

3.2.3.3 Auswirkungen auf die historische Bausubstanz

Das hier beschriebene Sanierungssystem hat wesentliche Auswirkungen auf die historische Bausubstanz. Es liegt in der Natur der Sache, daß es unter den gegebenen Umständen bei Gebäudesanierungen ausschließlich um die Sicherung der Standfestigkeit, die Erhaltung von Wohnraum und eine ökonomische Machbarkeit geht. Fragen der bauhistorischen Bedeutung und der architektonischen Qualität spielen bei Sanierungen, insbesondere auf behördlicher Seite, überhaupt keine Rolle. In Einzelfällen fanden wir Bewohner oder Hausbesitzer, die sich um die Erhaltung konstruktiver Elemente oder ornamentaler Details bemühten (z.B. Anhang Nr. 5, Nr. 24, Nr. 74, Nr. 145). Gravierender als die Tatsache der Sanierungsmaßnahmen als solcher wirkt sich jedoch ein bestimmtes Prinzip bei der Durchführung aus. Gemeint ist die Vergabe an den niedrigsten Bieter. Die Konkurrenz unter den Baufirmen ist so groß, daß sich viele Bieter zu einer sehr knappen Kalkulation gezwungen sehen. Eine solche Kalkulation berücksichtigt nicht nur die zu erbringenden Leistungen, sondern auch den Marktwert ausbaubarer Bauteile. Gut verkaufen lassen sich vor allem Teakholzbalken und Altmetalle (z.B. Gußeisen). In einer großen Zahl von Fällen berichteten uns Hausbewohner, Baufirmen hätten bei einer Instandsetzung funktionstüchtige Teile ausgebaut und durch minderwertige ersetzt. Überhaupt wurde die schlechte Qualität der von Baufirmen erbrachten Leistungen allenthalben beklagt. Neu verlegte Wasser- und Abwasserleitungen fingen nach kurzer Zeit an, undicht zu werden (vgl. Anhang Nr. 58); Mörtelfugen und Estriche bröckelten schon nach wenigen Jahren ab, weil die Firmen Zement allerniedrigster Qualität verwendeten. Die Beaufsichtigung der Instandsetzungsarbeiten ist insgesamt mangelhaft, und viele Praktiken der Baufirmen werden von der Sanierungsbehörde stillschweigend geduldet oder in Kauf genommen. Das Ergebnis der schlechten Qualität der Bauleistungen findet in einer drastischen Zahl ihren Niederschlag: im Jahr 1980 waren 42 % der zusammengebrochenen Häuser zuvor von der Sanierungsbehörde instandgesetzt worden.... 89

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Sanierungssystem der Erhaltung von Baudenkmalen gleichzeitig nützt und schadet. Sinnvolle statische Sanierungen wirken sich im allgemeinen gebäudeerhaltend, schlecht ausgeführte Instandsetzungen dagegen gebäudezerstörend aus.

3.2.4. Mietrecht

Auf die Bedeutung des Mietrechts wurde schon im Zusammenhang mit dem schlechten Erhaltungszustand vieler Wohnbauten hingewiesen. Tatsächlich trägt das Mietrecht die Hauptverantwortung für die schlechte Unterhaltung und die daraus resultierende Baufälligkeit der meisten Wohnhäuser. Gleichzeitig ist das Mietrecht aber auch wesentlich verwantwortlich dafür, daß sich insgesamt noch so viele historische Wohnbauten erhalten haben. Dieser scheinbare Widerspruch hat seine Ursache in dem im Mietrecht verankerten doppelten Mieterschutz.

Nach der Erlangung der indischen Unabhängigkeit wurde das britische Mietrecht in Bombay durch eine stärker sozialistisch geprägte Mietgesetzgebung abgelöst. 1947 wurde 'The Bombay Rents, Hotel and Lodging House Rates Control Act' erlassen. Darin befinden sich vor allem zwei Bestimmungen, die hier von Bedeutung sind. Zum einen wurden die Mieten eingefroren, indem eine sogenannte Standardmiete ('standard rent') eingeführt wurde, die im Normalfall mit der Miethöhe am 1. September 1940 identisch ist.90 Zum anderen wurde den Mietern ein nahezu vollkommener Kündigungsschutz eingeräumt. 91

Bis heute hat sich an den eingefrorenen Mieten nichts geändert, so daß manche Mieter seit 1947 nicht mehr als 15 Rupien (ca. 2 DM [!]) Monatsmiete bezahlen müssen, das sind weniger als 1 % eines durchschnittlichen Monatslohnes (vgl. Anmerkung 87). Die Einkünfte der Hausbesitzer aus Mieteinnahmen sind damit im Verhältnis zu den gestiegenen Lohn- und Materialkosten so gering geworden, daß Instandsetzungsmaßnahmen nicht mehr finanziert werden können oder die Besitzer das Interesse daran verloren haben. Umgekehrt sind Mieter meistens kaum bereit, sich an Unterhaltungskosten zu beteiligen, solange sie keinen Anteil am Grundbesitz haben.

Der Effekt des Kündigungschutzes geht in eine andere Richtung. Er ist nämlich sozusagen spekulationshemmend. Für einen Hausbesitzer oder Bauunternehmer, der einen Altbau abreißen und durch ein Renditeobjekt ersetzen möchte, ist es außerordentlich schwierig, die Mieter zum Auszug zu bewegen. Dies ist prinzipiell nur im gegenseitigen Einvernehmen, in der Regel unter Zahlung größerer Abfindungssummen und Beschaffung einer Ersatzwohnung, nicht jedoch durch eine Kündigung möglich. Da in manchen Stadtteilen (z.B. in der Basarzone) gar keine Ersatzwohnungen, in anderen (z.B. in Colaba) nur sehr teure vorhanden sind, kommen Gebäudeabrisse aufgrund von renditeorientierten Bauvorhaben relativ selten vor. Am ehesten erlebt man sie, wo die Zahl der abzufindenden Mietparteien gering ist, z.B. in alten Villen in Colaba (vgl. Anhang Nr. 28) oder in Malabar Hill.

Beim Mietrecht ist es also ähnlich wie beim Sanierungssystem: es "schützt" Baudenkmale durch die weitreichende Kündigungsbeschränkung und schadet zugleich durch das Verbot von Mieterhöhungen und die daraus folgende Vernachlässigung der Gebäude.

3.2.5. Bau-, Boden- und Denkmalrecht

Wie bereits dargestellt, war der Erlaß von Bauvorschriften in Bombay meistens eine Reaktion auf unerwünschte bauliche Entwicklungen. Die erste Bauordnung von 1748 war eine Antwort auf die beginnende starke Verdichtung innerhalb des Forts; die "Regulation III" vom 4. 11. 1812 folgte als Konsequenz aus dem großen Brand von 18O3, und die Ausstattung des City Improvement Trust mit exekutiven Vollmachten im Jahr 1898 war eine Reaktion auf die Pestepidemie. 1982 wurden eine neue Bauordnung und neue Bebauungsvorschriften erlassen.92 Auch sie sind im Prinzip eine Antwort auf die immer noch unbefriedigende bauliche Entwicklung auf der Insel Bombay. In ihnen sind nochmals verschärfte Vorschriften über die Mindestabstände von Grundstücksgrenzen, den Mindestanteil von Freiflächen und die maximale Überbauung enthalten. Ihre konsequente Anwendung würde längerfristig zu einer erheblichen Ausdünnung der Bebauung auf der Insel Bombay führen. Dies ist weder im Sinne von Nutzern noch Investoren. Insofern gehört es zu den indirekten Rückwirkungen der verschärften Bauvorschriften, daß vor allem die Nutzer ein Interesse an der Erhaltung der bestehenden Bausubstanz mit ihrem höheren Überbauungsgrad und ihrer größeren Geschoßflächenausnutzung haben. Allerdings ist es mit der Anwendung und Durchsetzung der Bauvorschriften heute nicht viel anders als zur Kolonialzeit. Theorie und Praxis, Planung und tatsächliche Entwicklung stimmen oft nur in geringem Maße überein.

Das Bodenrecht, das ebenfalls indirekte Auswirkungen auf den Bestand alter Bausubstanz hat, ist in Bombay recht kompliziert. Schon von den Portugiesen hatte die East India Company ein feudales Pachtsystem übernommen, das mit verschiedenen Abgaben und Dienstverpflichtungen verbunden war. Bei vielen Ländereien bestand eine unklare Rechtslage. Erst eine genaue Landvermessung und die Ausstellung von Besitztiteln und Pachtverträgen brachte eine gewisse Rechtssicherheit. Besondere Bedeutung erlangten verschiedene Formen von Erbpachtverträgen, die ab 1758 eingeführt wurden. Die Laufzeiten der Verträge variierten zwischen 21 und 999 Jahren.93 Ebenso variierten die Bedingungen bezüglich der Errichtung von Häusern und deren Übernahme nach Ablauf des Vertrages. Ab 1894 wurden die Vertragsbedingungen vereinheitlicht und zwei Kategorien eingeführt. Für wertvolles Bauland wurden Laufzeiten von 99 Jahren festgesetzt und relativ strenge Vorschriften bezüglich der Dauerhaftigkeit und der Instandhaltung von zu errichtenden Gebäuden erlassen. Zu dieser Kategorie gehörte das Bauland im Fort, auf der Esplanade und entlang der gesamten Back Bay von Chowpatty bis nach Colaba. Für weniger wertvolles Bauland betrug die Laufzeit 50 Jahre, und es wurde nur die Einhaltung der allgemeinen Bauvorschriften zur Auflage gemacht. Viele der erhaltenswerten Gebäude stehen auf Erbpachtgelände und unterliegen heute noch den entsprechenden vertraglichen Konditionen. Von Bedeutung sind hier vor allem die Auflagen zur Instandsetzung und Werterhaltung, die bauliche Erweiterungen und Verbesserungen jederzeit zulassen, einen Abriß, selbst mit dem Ziel einer Neubebauung in der Regel aber verbieten.94

Ein Denkmalrecht im eigentlichen Sinne gibt es in Bombay oder in Maharashtra bisher noch nicht. Die einzige gesetzliche Handhabe im Bereich der Denkmalpflege ist ein Bundesgesetz zum Schutz von archäologischen Monumenten und Fundstätten. Konzipiert ist dieses Gesetz in erster Linie für die Erhaltung der großen nationalen Kulturdenkmäler (Tempel, Paläste, Grabanlagen usw.), aber theoretisch könnte es auch im lokalen Bereich Anwendung finden. Einzige formale Voraussetzung dazu ist das Mindestalter eines Baudenkmals von 100 Jahren. Dies träfe in Bombay inzwischen bei den meisten der großen öffentlichen Gebäude zu. Seit ca. zwei Jahren werden auch im Staat Maharashtra Überlegungen zur Einführung eines Denkmalschutzgesetzes angestellt. Einen wesentlichen Anteil an der Konzeption eines solchen Gesetzes hat der Indian National Trust for Art and Cultural Heritage (INTACH; siehe unten). Das Gesetzgebungsverfahren ist allerdings bisher über einen ersten Entwurf noch nicht hinausgekommen.

3.2.6. Organisationen und Institutionen

Da noch kein staatliches oder kommunales Denkmalrecht in Bombay existiert, gibt es bisher weder eine Denkmalbehörde noch eine andere staatliche Institution, die sich mit der Erfassung und der Erhaltung von Baudenkmalen befaßt. Die einzigen Organisationen, die in diesem Bereich tätig sind, arbeiten auf halbamtlicher oder privater Basis. In erster Linie zu nennen sind hier der Indian National Trust for Art and Cultural Heritage (INTACH), das Save Bombay Committee und bis zu einem gewissen Grad die Bombay Local History Society. Die beiden zuerst genannten Organisationen sind noch jung, haben aber in kurzer Zeit einen relativ starken Einfluß bei politischen Entscheidungen und in den Medien erlangt. Diese Tatsache könnte zu der Annnahme verleiten, hierin spiegle sich ein neues öffentliches Bewußtsein für das historische Erbe und die überkommenen Kulturdenkmäler wieder. Für die Masse der Bevölkerung wäre eine solche Annahme jedoch falsch. Vielmehr kommt hier das Bewußtsein einer kleinen, meist westlich geprägten Elite zum Ausdruck, die für sich eine Vorreiterrolle in Anspruch nimmt. Alle genannten Organisationen sind personell miteinander verflochten und arbeiten in wesentlichen Bereichen zusammen.

3.2.6.1 Der Indian National Trust

Der Indian National Trust for Art and Cultural Heritage (INTACH) ging aus der Indian Heritage Society hervor und wurde nach dem Vorbild des britischen National Trust 1984 gegründet. 95 Er ist eine nationale Stiftung, die aus Mitteln der indischen Bundesregierung, aus Spenden und aus Mitgliedsbeiträgen finanziert wird. Präsident und Schirmherr ist der indische Ministerpräsident Rajiv Gandhi. INTACH ist auf Bundesebene und in Ortsgruppen organisiert. Die Ortsgruppe Bombay ('Bombay Chapter') ist ein besonders aktiver Zweig dieser Institution, deren Arbeit im wesentlichen von einigen Intellektuellen (darunter Architekten, Historikern und Hochschullehrern) getragen wird. Ziel dieser Arbeit ist die Bewahrung von Kultur- und Baudenkmalen. Diesem Ziel dienen unter anderem die Identifizierung und Inventarisierung solcher Denkmale, die Erforschung, Dokumentation und Publikation baugeschichtlicher Zusammenhänge sowie die Einflußnahme und konstruktive Mitarbeit bei gesetzgeberischen Initiativen. Längerfristig ist auch der Erwerb einzelner Gebäude oder Anwesen zum Zweck der Konservierung geplant, ähnlich wie es in England und Australien der Fall ist. 1986 veröffentlichte die Ortsgruppe Bombay eine erste Liste von Gebäuden und Gebäudegruppen, die für eine Eintragung in ein Denkmalregister vorgeschlagen werden.96 Für die Insel Bombay enthält die Liste 354 Einträge. Parallel zu der Gebäudeliste wurde eine Untersuchung eines beispielhaften Ensembles einheimischer Holzarchitektur im Stadtteil Girgaum veröffentlicht, an deren Erarbeitung sich Studenten der Academy of Architecture beteiligt hatten. 97 Gegenwärtig arbeitet INTACH/Bombay an konkreten Vorschlägen für eine Gesetzesvorlage zum Denkmalschutz in Maharashtra. Die Konzeption dazu lehnt sich wiederum eng an das britische Vorbild an und enthält unter anderem einen Kriterienkatalog zur Bewertung von Baudenkmalen, der im Anhang dieser Arbeit übernommen wurde.

3.2.6.2 Das Save Bombay Committee

Auf die Entstehung des Save Bombay Committee im Jahr 1978 wurde im Vorwort bereits eingegangen. Ursprünglich als Ausschuß des Gemeinderates von Bombay eingesetzt und nach einem Führungswechsel in der Stadtverwaltung wieder aufgelöst, ist es heute eine "außerparlamentarische Gruppierung", die man wohl am zutreffendsten als Bürgerinitiative bezeichnet. Ähnlich wie dem National Trust gehören ihr führende Persönlichkeiten aus Kultur und Wirtschaft an (z.Zt. ca. 25 Personen). Anfänglich hatte sich das Save Bombay Committee fast ausschließlich mit Fragen des Schutzes und der Erhaltung von Baudenkmalen befaßt. Inzwischen hat es sein Betätigungsfeld auf nahezu alle Bereiche der Planung und Stadtentwicklung ausgedehnt, da es zu der Erkenntnis gekommen war, daß das Phänomen der verfallenden oder anderweitiger Zerstörung unterliegenden Baudenkmale nur im Zusammenhang mit der gesamten Entwicklung gesehen werden kann. Das Save Bombay Committee hat bei seiner Arbeit nicht so sehr einen akademischen Ansatz wie der National Trust, sondern eher einen pragmatisch politischen. Regelmäßige Presseverlautbarungen, die Erwirkung einstweiliger Anordnungen bei bestimmten Bauvorhaben oder die Veranstaltung von Symposien zu Planungsfragen sind typische Formen der Vorgehensweise. Gute Kontakte zur nationalen Presse verschaffen dem Save Bombay Committee immer wieder überregionales Gehör. Mit der Veröffentlichung einer 17O-seitigen kritischen Analyse des 'Bombay Entwicklungsplans 1981 - 2001' ('Revised Development Plan for Greater Bombay 1981 - 2001') im Februar 198798 konnte es sich mit einem Bericht auf der ersten Seite der Times of India plazieren. Obwohl das Save Bombay Committee sicher von der Stadtverwaltung als unbequem empfunden wird, ist es doch so weit respektiert, daß es regelmäßig zur Begutachtung von Bauanträgen eingeladen wird, die einen Zusammenhang mit Baudenkmalen haben. Solche Gutachten werden von einzelnen Mitgliedern in oft großer Fleißarbeit ehrenamtlich erstellt. Auf diese Weise sind schon manche Bauvorhaben, vor allem im Bereich des Forts, gestoppt oder in ihrer Auswirkung auf erhaltenswerte Bauten gemindert worden. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Save Bombay Committee einen weit über seine zahlenmäßige Stärke hinausgehenden Einfluß auf die Behandlung der historischen Bausubstanz hat und daß sich dieser Einfluß besonders in Einzelfällen immer wieder konkret auswirkt.99

3.2.7. Bau- und Bodenspekulation

Aufgrund der geringen Verfügbarkeit unbebauter Grundstücke und aufgrund des umfassenden Mieterschutzes bei Altbauten sind die Betätigungsmöglichkeiten für Bau- und Bodenspekulanten in Bombay stark eingeschränkt. Dennoch fehlt es auch hier nicht an der nötigen Energie und Phantasie, Profit versprechende Transaktionen und Projekte zu planen und auszuführen. Betroffen hiervon sind vor allem Grundstücke in den weniger dicht bebauten Stadtteilen Colaba und Malabar Hill. Hier findet man zum Teil Häuser mit nicht mehr als drei oder vier Mietparteien. In solchen Fällen liegt es für Immobilienmakler, Bauunternehmer und ähnliche Investoren oft noch innerhalb eines profitorientierten Kalküls, die Mietparteien durch hohe Ausgleichszahlungen (genannt wurden uns Beträge um ein bis zwei Millionen Rupien pro Mieter) zum Auszug zu bewegen. Dies ist die Voraussetzung für den Abriß eines Gebäudes und die Neubebauung eines Grundstücks. Sehr beliebt sind auch Projekte zur Überbauung oder Aufstockung existierender Altbauten. Sie haben den Vorteil, daß die Mieter in ihren Wohnungen bleiben können und die entsprechenden Ausgleichszahlungen entfallen. Stattdessen entstehen jedoch höhere Kosten für die zum Teil aufwendigen Konstruktionen. Außerdem müssen die Hausbesitzer für den Verkauf des "Luftraums" über den bestehenden Gebäuden entschädigt werden. Mit einer Einhaltung bestehender Bebauungsvorschriften haben solche Projekte meist wenig zu tun. Deshalb kommt dem letzten der hier zu nennenden Einflußfaktoren eine besondere Bedeutung zu.

3.2.8. Korruption

NISSEL schreibt: "Es gibt kaum öffentliche Dienststellen, die sich eines derart schlechten Rufs 'erfreuen' wie solche, die mit Bautätigkeiten in Zusammenhang stehen. Sie sind in der Tat Hochburgen von bürokratischer Unfähigkeit, Korruption, Nepotismus und politischer Intervention."100 Dr. Armaity Desai, Direktorin des Tata Institute of Social Sciences, beklagt, daß die Korruption in alle Ebenen der bürokratischen Hierarchie eingedrungen sei und ein effizientes Sanierungswesen vereitle.101 In der Tat ist die Korruption ein Einflußfaktor, der sich auf alle Bereiche der Planung, Sanierung und Bauerhaltung auswirkt. Die Möglichkeiten der Bestechung scheinen nahezu unbegrenzt zu sein und lassen Gesetzestexte und Planungsvorgaben immer wieder zur Makulatur werden.

Einige typische Auswirkungen der Korruption lassen sich im Sanierungswesen und bei spekulativen Bauvorhaben erkennen. Die Ausschlachtung von Altbauten, d.h. der Ausbau von funktionstüchtigen Bauteilen durch Baufirmen und ihr Ersatz durch minderwertiges Material, ist zum Beispiel auf ein erkauftes Einverständnis zwischen den Beamten der Sanierungsbehörde und den Baufirmen zurückzuführen. Auf dem gleichen Prinzip beruht die sehr häufig auftretende "Tarnung" einer Rekonstruktion als Instandsetzung. Dies geschieht, um ein Gebäude abreißen und durch einen Neubau ersetzen zu können, ohne dabei die für Rekonstruktion geltenden strengeren Vorschriften beachten und den Besitzwechsel des Grundstücks vollziehen zu müssen. In der Regel bleibt in einem solchen Fall während der Errichtung des Neubaus zur Wahrung des Scheins ein Teil der alten Außenwand stehen; das alte Gebäude ist dann niemals ganz abgerissen, sondern nur "repariert" worden. Bei profitorientierten Bauvorhaben geht es meistens um größere Geldsummen, und es bleibt oft nicht bei der Bestechung einzelner Beamter. Haupthindernis für eine profitable Grundstücksausnützung ist die Beschränkung der Geschoßflächenzahl auf den Wert von 1,33 seit 1977 (davor 2,45). Mehrere "Korrekturmöglichkeiten" bieten sich hier an: Vergrößerung der Grundstücksgröße im Katastereintrag des Grundbuches, Verkleinerung der Geschoßflächenangaben im Bauantrag, Rückdatierung des Bauantrags auf ein Datum vor 1977 oder, bei besonders "interessanten" Objekten, auch eine Kombination von Rückdatierung und Flächenveränderung. Im Januar 1987 berichteten die Zeitungen von einem Fall im Stadtteil Girgaum, bei dem die Flächeneintragung im Grundbuch von 951 mē auf 1183 mē verändert worden war. Verwickelt in diesen Korruptionsfall waren der Bauunternehmer, der Leiter und ein Buchhalter des Grundbuchamtes102, der Architekt und ein Zeichner. Nach Angaben der Stadtverwaltung war dies der 46. Fall einer Manipulation der Geschoßflächenzahl, der von dem zur Bekämpfung des Bestechungswesens eingerichteten Antikorruptionsbüro (ACB) registriert worden war.103 Solche aufgedeckten Fälle bilden jedoch jeweils nur die Spitze eines Eisbergs von sehr viel größerem Umfang.