2. GESCHICHTE UND STADTENTWICKLUNG

2.1. ALLGEMEINE GESCHICHTE

Die heutige Insel Bombay ist das Produkt intensiver Landgewinnungsmaßnahmen während der letzten 300 Jahre. Vor der Ankunft der Europäer und bis in das 17. Jahrhundert hinein setzte sich das Areal aus sieben voneinander getrennten Inseln zusammen, von denen sich fünf (Mahim, Sewree, Mazagaon, Worli und Bombay) ringförmig um eine Lagune gruppierten, während die zwei kleinsten (Colaba und Old Woman's Island) den südlichen Fortsatz der Insel Bombay bildeten. Unter Umständen bezieht sich ein Hinweis von Ptolemäus, um 150 n. Chr. auf ein Gebiet 'Heptanesia' (Sieben Inseln) auf den Raum Bombay. Die Namen der Inseln haben sich bis heute als Stadtteilnamen erhalten (Abb. 6 und Abb. 7).

Funde von Faustkeilen und anderen Steinwerkzeugen lassen auf eine frühe Besiedlung der Inselgruppe schließen. Schon vor der arischen Einwanderung ( um 1500 v. Chr.) waren sie von drawidischen Kolis17 bewohnt. Die ersten Spuren arischer Siedler stammen aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert. Während der folgenden 2000 Jahre bis zur Ankunft der Europäer läßt sich die Zugehörigkeit der heutigen Region Bombay zu verschiedenen Reichen nachweisen, unter anderem zum Maurya-Reich (Bis 185 v. Chr.), zum Reich der Satavahanas (bis 220 n. Chr.) und der Kshatrapas (bis ca. 300 n. Chr.). Im Jahr 610 erobern die Chalukyas das Land, deren vedische Religion ( Hinduismus ) den Buddhismus ablöst. Ab dem 8. Jahrhundert findet man Juden aus Jemen und Zarathustra-Anhänger aus Persien an der westindischen Küste, die vor dem Ansturm des Islam hierher geflüchtet waren.

Keine genauen Kenntnisse besitzt man über das selbständige Königreich unter dem legendären König Bimb, das um 1300 in der Gegend bestanden hat. Bimb gilt jedoch als der Gründer von Bombay, da er seinen Regierungssitz in die Stadt Mahikavati auf der Insel Mahim verlegte und dort Befestigungsanlagen baute.18 Demnach lag der Siedlungsschwerpunkt im Gegensatz zur späteren Entwicklung zunächst im Norden des Inselbereichs. 1318 wird Mahim von dem moslemischen Schah Murabak I. besetzt und als militärischer Außenposten in das Sultanat Gujarat eingegliedert. Etwa 200 Jahre später wird erstmals über Angriffe von "Firangis" (Portugiesen) berichtet, die zunächst in einer Schlacht in der Bucht von Bombay geschlagen werden. Dennoch beginnen die Portugiesen in der Folgezeit, sich an verschiedenen Punkten der indischen Westküste festzusetzen. 1533 erobern sie die unmittelbar nördlich von Bombay gelegene Festung Bassein (Abb. 2). Der Sultan Bahadur Schah von Gujarat, der zur gleichen Zeit auch von den Mogulen aus dem Norden stark bedrängt wird und der die Schlagkraft portugiesischer Waffen erkennt, beschließt, sich mit den Portugiesen zu verbünden. Am 23.12.1534 wird der Vertrag von Bassein unterzeichnet, nach welchem der Sultan "dem König von Portugal von diesem Tag an für alle Zeiten die Stadt Bassein und dazugehörige Gebiete, Inseln und Gewässer (d.h. auch Bombay) mit ihren ganzen Steuereinnahmen und Rechten, wie er, Sultan Bahadur, König von Gujarat, sie zuvor innegehabt hatte, übergab und vermachte".19 Damit beginnt auf den Inseln von Bombay die Ära europäischer Herrschaft, die über 400 Jahre bis zum 14.8.1947 andauern wird.

Die Portugiesen fanden bei ihrer Ankunft nicht nur die Stadt Mahim mit einer Festung vor, sondern etliche Dörfer und Hüttensiedlungen auf allen 7 Inseln und weitere Befestigungsanlagen. Die Bewohner waren zumeist drawidische Kolis, die von Fischfang und Reisanbau lebten. Die Hauptprodukte der Inseln waren damals Kokosnüsse, Mangos, Salz, Reis und Fisch. Die Portugiesen vergaben die Ländereien inselweise nach einem feudalen Pachtsystem zunächst an portugiesische Kaufleute, dann aber fast ausschließlich an katholische Ordensgemeinschaften. Ein Schlüsselsatz portugiesischer Politik lag schon in Vasco da Gama's Ausspruch: "Wir kommen, um Christen und Gewürze zu suchen".20 Vor allem die Franziskaner und Jesuiten wetteiferten bei der Bekehrung der einheimischen Bewohner und waren bei ihren Mitteln nicht immer wählerisch. Zehntausend Inder sollen in der Umgebung von Bombay und Bassein von den Franziskanern getauft worden sein. Seit 1585 kontrollierten die Jesuiten und die Franziskaner die Inseln Salsette, Mahim, Bombay, Worli und Sewree. Die Einnahmen der Ordensleute waren wesentlich höher als die des portugiesischen Königs. Selbst der portugiesische Oberbefehlshaber in Bassein sah seine Befugnisse durch den Einfluß der Franziskaner beeinträchtigt. Aber auch die Aggressivität und Intoleranz der Jesuiten, ihre Zerstörung von Hindu-Tempeln und von islamischen Moscheen, erwies der portugiesischen Herrschaft keinen guten Dienst. Der Erzbischof von Goa schrieb 1629 an den König von Portugal, daß die größten Feinde der Interessen Portugals die Jesuiten seien. Sie scherten sich weder um die Anordnungen des Erzbischofs noch um die des portugiesischen Vizekönigs. Diese Uneinigkeit und dazu das gespannte Verhältnis zu den Einheimischen bereitete schließlich den anderen europäischen Nationen den Weg.

1583 kamen die ersten englischen Kaufleute an die indische Westküste. Nach mehreren Anläufen gelang es der East India Company, in der Hafenstadt Surat21 1612 eine feste Handelsniederlassung zu errichten. Drei Jahre später schlugen die Engländer eine erfolgreiche Seeschlacht gegen die Portugiesen bei Suwali, und 1626 griffen sie Bombay an und verbrannten dort das portugiesische Herrenhaus. Trotz der relativen Armut der Inseln interessierten sich die Engländer für Bombay wegen seines Potentials als Marinebasis. 1654 unterbreiteten die Direktoren der East India Company Cromwell den Vorschlag, die Inseln von den Portugiesen zu erwerben und betonten ihre strategisch günstige Lage. Durch eine gesicherte militärische Position erhofften sie sich mehr Unabhängigkeit für ihre Handelsaktivitäten. Am 23.6.1661 ließ sich dieses Ziel verwirklichen durch den Heiratsvertrag zwischen dem englischen König Charles II. und der Infantin Donna Catharina von Portugal. Gemäß Vertragstext wurden "Hafen und Insel Bombay mit allen Rechten, Gewinnen, Territorien und allem, was dazugehört, dem König von England, seinen Erben und Nachfolgern für alle Zeiten übergeben".22 1665 ergriffen die Engländer zunächst von der Insel Bombay und nach Überwindung des Widerstands der portugiesischen Bewohner dann auch von den Inseln Mazagaon, Sewree, Mahim und Worli Besitz. Durch königliche Verfügung wurden die Hoheitsrechte über Bombay im September 1668 der East India Company gegen eine jährliche Pacht von £ 10 übergeben.

Die Gesellschaft, die damals noch ausschließlich Handelsziele verfolgte, versuchte zunächst, den Handel durch Ansiedlung von Menschen verschiedener Nationalitäten und Klassen in Bombay zu fördern. Auf diese Weise kamen neben Indern auch Araber, Juden, Parsen und Armenier auf die Inseln. Zwischen 1661 und 1675 nahm die Bevölkerung von 10.000 auf 60.000 zu. Außerdem begann sie, das Kastell, das die Portugiesen hinterlassen hatten, auszubauen und zu verstärken (Abb. 8, 9, 10, 11). Ein Zollgebäude, ein Lagerhaus und eine Hafenmole für 20 Schiffe wurden errichtet. Bis 1667 dehnt sich der Handel aus, stagniert aber in der Folgezeit aufgrund widriger Umstände und wegen einer nur mäßigen Befähigung der eingesetzten Gouverneure. Unter anderem läßt das ungesunde Klima und die schlechte Hygiene die Sterblichkeit der Europäer stark ansteigen, was einen anglikanischen Geistlichen zu der Bemerkung veranlaßt, Bombay sei "nichts als ein Leichenhaus, in welchem ein Menschenalter zwei Monsune währt".23 Zu den häufigsten Erkrankungen gehörten Durchfall, Wassersucht, Skorbut, Gicht Malaria und Cholera. Zwischen 1686 und 1696 wütete eine Pest-Epidemie in ganz Westindien, so daß die Zahl der Engländer in Bombay bis 1691 auf 80, bis 1696 auf 27 und bis 1706 schließlich auf ganze 12 zurückging. Zu der schlechten inneren Lage kam auch noch eine ständige Bedrohung von außen durch Portugiesen, Franzosen, Marathen24, die Mogulen und Piraten. Eine Besserung trat erst ein, als 1715 mit Charles Boone ein entschlossener Gouverneur die Geschicke von Bombay in die Hand nahm. Er veranlaßte unter anderem eine erfolgreiche Expedition gegen die Piraten, die immer wieder voll beladene englische Handelsschiffe überfallen und ausgeraubt hatten, und ließ um Bombay eine Stadtmauer bauen (Abb.12). Die ummauerte Stadt wurde als 'Fort' bezeichnet, im Gegensatz zu dem älteren Kastell ('castle')25. Politisch versuchte Boone, sich mit den verschiedenen einheimischen Mächten zu arrangieren und taktische Bündnisse einzugehen, um der East India Company möglichst viel Freiraum für den Handel zu schaffen. Vor allem bei den unmittelbar benachbarten Marathen kam es darauf an, Irritationen zu vermeiden, da sie militärisch zu stark waren und eine ständige Bedrohung darstellten.26 In der Periode von 1722 bis 1764 wurden die Befestigungen des Kastells und des Forts weiter ausgebaut (Abb. 13, 14, 15). Einheimische Kaufleute steuerten 1739 dreißigtausend Rupien zum Bau eines Wassergrabens um das Fort bei, der 1743 vollendet war (Abb. 16, 17 u. 121). Die Streitkräfte wurden durch eine größere Zahl indischer Soldaten verstärkt. Mit dem Bau eines Damms am Durchbruch von Mahalakshmi (zwischen den Inseln Bombay und Worli; Abb. 6) begann man, die Lagune zwischen den fünf Hauptinseln trockenzulegen. 1748 wurde die erste Bauordnung erlassen und die Hauptdurchfahrtswege in Richtung Norden wurden festgelegt. Bei einer stetigen Zunahme der Bevölkerungszahl wurde es bald innerhalb der Stadtmauern so eng, daß man sowohl Europäer als auch Einheimische ermutigte, außerhalb der Mauern zu bauen. Es entstand ein neuer unbefestigter Stadtteil ca. 1 Kilometer nördlich des Forts, die sogenannte 'Native Town', die heute auch als Basarzone bezeichnet wird. 1764 hatte Bombay 100.000 Einwohner.

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird die Position Bombays durch militärische Stärke zunehmend sicher, und die Gefahr von marathischen Angriffen nimmt infolge von Streitigkeiten innerhalb deren Führung eher ab. Als die Portugiesen das politische Patt bei den Marathen für eine Rückeroberung ihrer ehemaligen Besitzungen Thana und Salsette nützen wollen, kommt ihnen die East India Company zuvor und besetzt diese Gebiete ihrerseits. Damit kommt es zur ersten Gebietsvergrößerung im Raum Bombay zugunsten der Engländer; gleichzeitig gibt die East India Company ihre ursprüngliche Beschränkung auf Handelsziele auf und beginnt, eine Expansions- und Machtpolitik zu betreiben.

In Abstimmung mit der Regierung von Bengalen werden weitere militärische Operationen gegen die Marathen durchgeführt, und 1781 werden Kalyan27 und Bassein erobert. Innerhalb des Marathen-Reiches beginnen immer mehr lokale Führer, sich zu verselbständigen, und es herrschen teilweise gesetzlose Zustände. Die Position des Peshwa wird zunehmend geschwächt, und 1802 besetzt der marathische Freibeuter Holkar die Hauptstadt Poona. Der Peshwa flieht und sucht Hilfe bei der East India Company. Diese läßt sich die Zurückeroberung Poona's durch weitere Ländereien und durch die Gewährung zahlreicher vertraglicher Rechte bezahlen. Schlimmste Unterdrückung und Tyrannei gegenüber dem eigenen Volk, verräterische Intrigen gegenüber den Engländern, zunehmende Vernachlässigung der Verwaltung und die persönliche Bereicherung des Peshwa führen jedoch in der Folgezeit zu unerträglichen Zuständen bei den Marathen, so daß sich die East India Company entschließt, der Herrschaft des Peshwa endgültig ein Ende zu setzen. Im November 1817 werden die Marathen bei Poona vernichtend geschlagen, und die Truppen der East India Company besetzen das gesamte marathische Territorium auf dem Dekkan-Plateau. Der Peshwa, der vorübergehend untergetaucht war, ergibt sich schließlich, verzichtet auf alle Herrschaftsrechte und wird mit £ 80.000 Jahrespension in Bithur am Ganges zur Ruhe gesetzt. Bombay wird damit zum politischen Zentrum eines erheblichen Teils von West- und Zentralindien.

In der Zwischenzeit hatte sich auch die Stadt Bombay weiterentwickelt. Vor allem der Handel hatte weitere Fortschritte gemacht, obwohl das immer noch bestehende ausschließliche Handelsmonopol der East India Company dem Wachstum Grenzen setzte. Ein großer Brand innerhalb des Forts am 17.2.1803, der 471 Häuser, 6 religiöse Gebäude und 5 Kasernen sowie eine große Menge Handelsware zerstörte, führte zu einer weiteren Verlagerung der Besiedlung nach Norden. Der Bau zusätzlicher Dämme zwischen den einzelnen Inseln bewirkte die vollkommene Trockenlegung der ehemaligen Lagune und die Vereinigung der Inseln Worli, Mahim, Sewree, Mazagaon und Bombay zu einer einzigen Insel Bombay. Nur Old Woman's Island und Colaba waren weiterhin von der Hauptinsel getrennt.

Eine glückliche Hand bei der weiteren Entwicklung hatte der Gouverneur Mountstuart Elphinstone, der von 1819 - 1827 die Geschicke der Stadt lenkte und dabei eine maßvolle aber erfolgreiche Politik betrieb. Der anglikanische Bischof Heber kommentierte am Ende seiner Amtszeit: "Auf dieser Seite Indiens werden bei der Verbesserung des Landes, beim Bau von Straßen und Gebäuden, bei der Versöhnung mit den Einheimischen und bei deren Erziehung mehr Eifer und Liberalität an den Tag gelegt als ich bisher in Bengalen gesehen habe".28 Zu den wichtigsten Maßnahmen dieser Zeit gehörte vor allem auch der Bau einer Straße über den schwierigen Anstieg der Sahyadri-Abbruchkante auf die Dekkan-Hochebene, der die Handelsbeziehungen zum Hinterland erheblich verbesserte.

Die protektionistische Politik der East India Company und die daraus resultierenden Hemmnisse für den freien Handel veranlaßten die englische Regierung, das Handelsmonopol der Gesellschaft für Indien per Gesetz 1813 aufzuheben und für China auf weitere 20 Jahre zu begrenzen. Am 18.8.1837 wird Königin Victoria in einer Proklamation zum Oberhaupt von Bombay samt abhängigen Gebieten erklärt, und die East India Company muß damit nach 169 Jahren auch ihre Hoheitsrechte abgeben. Der Handel, den nun jedermann ungehindert treiben konnte, nahm nach diesen Maßnahmen noch einmal einen großen Aufschwung, und Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte Bombay die wahrscheinlich entscheidendste Wachstumsphase.

1838 wird mit dem Colaba Causeway die Landverbindung zu den letzten beiden noch nicht angebundenen Inseln Colaba und Old Woman's Island hergestellt (Abb. 18). Eine Wasserversorgung mit mehreren Stauseen auf dem Festland und Anfänge einer Kanalisation werden in Angriff genommen. 1853 ist die erste Eisenbahnverbindung von Bombay nach Thana (Abb. 2) fertiggestellt, ein Jahr später öffnet die erste Baumwollspinnerei ihre Tore (bis 1860 sind es bereits sieben). Die Besiedlung breitet sich stetig nach Norden und Westen aus. Die Europäer und die einheimische Oberschicht bevorzugen nun die zur westlichen Küste hin orientierten Gebiete Malabar Hill und Mahalakshmi (Abb. 4) als Wohngegenden. Das verfügbare Gelände in relativer Nähe zum Fort beginnt knapp zu werden, und deshalb beginnt man in der Back Bay29 durch Abdeichung und Aufschüttung systematisch Bauland zu gewinnen (Abb. 19 und 20).

1857 wird ganz Indien durch einen Aufstand der einheimischen Bevölkerung gegen die englische Herrschaft erschüttert ('Great Mutiny'), der jedoch in Bombay im Gegensatz zu anderen Landesteilen im großen und ganzen glimpflich abläuft.

Die Jahre 1861-65 sind in Bombay von fieberhafter Aktivität und explosionsartigem Wachstum gekennzeichnet. Der Grund dafür liegt in der Verteuerung der amerikanischen Baumwolle infolge des amerikanischen Bürgerkrieges und in der daraus resultierenden schlagartigen Nachfrage nach Baumwolle aus Indien. Innerhalb kurzer Zeit fließt eine gewaltige Geldmenge nach Bombay (Mehreinnahmen zwischen 1861 und 1865 ca. 70 - 75 Millionen Pfund Sterling) und führt zu enormen Preisanstiegen und Aktienspekulationen ('share mania'). Vor allem die Aktiennotierungen von Reedereien und von der mit der Landgewinnung befaßten Gesellschaft (Back Bay Reclamation Company) erreichen schwindelerregende Höhen, und einzelne Spekulanten erzielen riesige Gewinne. Banken, Geldverleihfirmen und Maklerbüros schießen wie Pilze aus dem Boden, die Grundstückspreise verdrei- bis vervierfachen sich, und Mieten werden fast unbezahlbar. Die Einwohnerzahl steigt von ca. 500.000 vor 1860 auf 816.000 im Jahr 1864 (erste Volkszählung). Bombay ist damit nach London die zweitgrößte Stadt des britischen Empires. Im Frühjahr 1865, nach der Beendigung des amerikanischen Bürgerkrieges, findet diese Entwicklung ein plötzliches Ende. Die Baumwollpreise fallen und das Aktienkarussell bricht zusammen. Viele Spekulanten können ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Ende 1866 sind alle Banken und Finanzierungsgesellschaften (mit Ausnahme von vier Banken) bankrott. Vor allem der Zusammenbruch der ältesten und renommiertesten Bank, der Bank of Bombay, erregt in Indien und England viel Aufsehen. Ab 1867 beginnt sich die Lage wieder zu normalisieren, und es bleibt kein dauerhafter Schaden für die weitere Entwicklung. Dank der vorausschauenden Planung des damaligen Gouverneurs Sir Bartle Frere war es sogar möglich gewesen, einen nicht unerheblichen Teil der während des Baumwollbooms nach Bombay fließenden Gelder in wichtige öffentliche Projekte zu lenken. Sanitäre und hygienische Verbesserungen, Landgewinnungsmaßnahmen und die Errichtung großer öffentlicher Gebäude gehörten dazu. 1863 wurden alle Befestigungsanlagen außer dem Kastell abgerissen (vgl. Abb. 28). Das freiwerdende Gelände ('Esplanade') wurde für Straßen, Plätze und monumentale öffentliche Gebäude genutzt (Abb. 21, 22, 37, 38 u. 121).30 6 Millionen Pfund Sterling wurden in die Landgewinnung auf der Hafenseite und an der Back Bay investiert und die Landfläche der Insel Bombay bis 1872 von 46 km² auf 56 km² vergrößert. Wichtige Straßen wie Cruickshank Road (heute Mahapalika Marg) und Carnac Road (heute Lokmanya Tilak Road) wurden 1865 und 1866 verbreitert.

Neben den baulichen Aktivitäten kam es auch zu politischen Reformen. 1865 wurde eine erste 'Municipal Bill' (Städtische Verfassung) eingeführt, die aber bald am Fehlen des Prinzips der Gewaltenteilung scheiterte. Es folgte eine verbesserte Version 1872, die der Exekutivmacht eines ernannten Stadtdirektors ('Municipal-Commissioner') die legislative Kontrolle durch einen gewählten Gemeinderat ('Municipal Council') gegenüberstellte. Die ersten Gemeinderatswahlen fanden im Juli 1873 statt.

Trotz des vorübergehenden Zusammenbruchs des Baumwollmarktes im Frühjahr 1865 blieb die Textilindustrie die Basis der wirtschaftlichen Entwicklung in Bombay und nahm ab 1870 wieder einen stetigen Aufschwung. Die Zahl der Textilfabriken nahm von 10 im Jahr 1870 auf 70 im Jahr 1890 zu. 1881 waren 8,4 % der Bevölkerung Textilarbeiter. Die meisten Textilfabriken wurden im Zentrum und im Norden der Insel auf dem zum Teil unter Meeresniveau liegenden Gelände angesiedelt, das seit der Mitte des 18. Jahrhunderts trockengelegt worden war.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert erfuhr die Entwicklung von Bombay noch einmal einen jähen Einschnitt. In einer Mietskaserne in der östlichen Basarzone brach 1896 die Pest aus und breitete sich im folgenden Jahr als Epidemie in der ganzen Stadt aus. In einer einzigen Woche flohen 10.000 Einwohner aus Bombay. 1898 kam es zu Unruhen wegen der negativen Auswirkungen, und in den Jahren bis 1901 folgten nochmals mehrere Epidemiewellen und ein weiterer Exodus von Bewohnern. Eine Krise der Textilindustrie, verbunden mit Arbeitslosigkeit, gehörte zu den weiteren Auswirkungen. Die Einwohnerzahl war bis zum Ende der Pest unter den Stand von 1864 gesunken (nämlich auf 776.000). Die immer noch unzureichenden sanitären und hygienischen Bedingungen und die Übervölkerung einzelner Stadtteile hatten die Ausbreitung der Pest begünstigt. Um hier Verbesserungsmaßnahmen durchzusetzen, wurde 1898 nach dem Vorbild von Glasgow31 der 'City Improvement Trust' gegründet. "Diese Organisation erhielt weitgehende Vollmachten und veränderte insbesondere in den 2Oer Jahren die Physiognomie der Stadt beträchtlich: Sie veranlaßte die Demolierung wie Neuerrichtung ganzer Stadtteile (Mandvi, Nagpada)32, den Durchbruch von breiten Straßenzügen in dichtverbauten Bezirken (Beispiele Princess Street, Sandhurst Road, Lamington Road)33, den Bau von Arbeitersiedlungen (Worli, Naigaum)34, und als größte Leistung den Bau von bis heute richtungsweisenden Mittelklassevierteln nördlich des Industriegürtels (Matunga, Sion, Dadar)35. Die Weltwirtschaftskrise 1928 bedeutete das Ende der Organisation sowie nahezu jeder größeren Bautätigkeit bis nach dem zweiten Weltkrieg."36

Ganz ähnlich war auch der Verlauf der industriellen Entwicklung. Anfang des Jahrhunderts hatte sich die Textilindustrie nach einer weltweiten Ausdehnung des Baumwollmarktes wieder erholen und erweitern können. Andere Industriezweige hatten sich jedoch sehr zögernd entwickelt, da die britische Politik keineswegs auf eine Förderung der Industrieansiedlung angelegt war. Diese Einstellung hatte sich dann aber teilweise durch den Rüstungsbedarf während des ersten Weltkriegs geändert, und in Bombay entstanden einige Betriebe des Maschinenbaus und der Chemie. Bis zur Weltwirtschaftskrise hatte die Zahl der Industriebeschäftigten dann stetig zugenommen, danach nahm sie bis 1936 jährlich ab. 17,3 % der in der Textilindustrie Beschäftigten verloren 1928 ihren Posten, noch einmal 25 % waren es im Jahr 1933. Den eigentlichen Anstoß zu einer massiven industriellen Expansion gab erst der zweite Weltkrieg, der die Engländer zu einer Forcierung anstelle einer Verhinderung der Industrieansiedlung in Bombay veranlaßte. In dieser Phase expandierten Werften, Metallwerke, Maschinenbaufabriken und die chemische Industrie. Die Beschäftigtenzahl in diesen Branchen vergrößerte sich von 67.000 im Jahr 1939 auf 168.000 im Jahr 1944. Damit war der Grundstock für die weitere Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg gelegt. Seit der indischen Unabhängigkeit im August 1947 sind die technischen Industriezweige überproportional gewachsen und haben die Textilindustrie von ihrer dominierenden Position verdrängt. Die damit verbundene Zunahme von Arbeitsplätzen führte zu einem enormen Bevölkerungswachstum, das bis heute anhält. Wohnraum-, Energie- und Wasserversorgung sowie das Transportwesen sind heute zu fast unlösbaren Aufgaben geworden und erfordern eine grundsätzliche Neuorientierung bei der Entwicklungsplanung für den zur Weltmetropole gewachsenen ehemaligen Handelsposten Bombay.37

2.2. STADTENTWICKLUNG38

2.2.1. Einführende Bemerkungen

Wie bereits dargestellt, trafen die ersten Europäer bei ihrer Ankunft an der indischen Westküste nicht auf unbewohnte Territorien. Auf allen sieben Inseln, die den Kern der heutigen Insel Bombay bildeten, gab es Hüttendörfer und auf einigen auch hinduistische Tempelanlagen. Den Siedlungsschwerpunkt bildete die befestigte Stadt Mahikavati auf der Insel Mahim (Abb. 7 und 42).

Das Aufeinandertreffen von Europäern und Indern war ein Aufeinandertreffen zweier Welten. Osten und Westen, Morgen- und Abendland begegneten sich hier in einem polaren Kräftefeld, das von unterschiedlicher Mentalität, Kultur und Lebensart bestimmt war. Die Europäer übernahmen zwar aufgrund militärischer Stärke die politische Vorherrschaft, waren aber nicht so übermächtig, daß sie nicht auf das Zusammenwirken mit einheimischen Kräften und die Toleranz einheimischer Strukturen angewiesen gewesen wären. Vor allem, als die East India Company begonnen hatte, Händler und Kaufleute aus ganz Indien und dem vorderen Orient in Bombay anzusiedeln, entwickelte sich eine Polarität, die sich unter anderem sehr deutlich in der Stadtbaugeschichte und bei der Entstehung des Stadtgrundrisses niedergeschlagen hat. Etwas verallgemeinernd ließe sich sagen, daß sich mit dem politischen Willen der Europäer und der ökonomischen und sozialen Dynamik der Inder Kräfte gegenüberstanden, die auf die Stadtentwicklung zum einen ordnend und geometrisch, zum anderen zufällig und organisch einwirkten. Der westlichen, vor allem englischen Mentalität, entsprach die längerfristig angelegte Planung, der östlichen Denkweise eher das von einer momentanen Notwendigkeit veranlaßte kurzfristige Handeln. Diese Polarität zwischen geplanter Entwicklung und unkontrolliertem Wachstum hat sich bis heute erhalten, obwohl die Europäer an der Planung schon seit 40 Jahren nicht mehr beteiligt sind. Charakteristisch für die Stadtentwicklung von Bombay ist, daß die ordnenden Kräfte der Eigendynamik des unkontrollierten Wachstums oft hinterherhinkten oder unterlegen waren. In der frühen Phase der Entwicklung hing dies zum einen mit der unsicheren politischen Lage zusammen, die eine längerfristige Planung verhinderte. Zum anderen war die East India Company vorrangig mit der militärischen Absicherung und dem Ausbau des Handels befaßt, und für andere Aufgaben fehlten die personellen Möglichkeiten. Als sich der Status von Bombay konsolidiert hatte, war es die Schnelligkeit des Wachstums, die den Planungen davoneilte und oft nur noch unzureichende Korrekturen - wie z. B. die Verbreiterung von Straßen - zuließ. Außerdem zeigte sich immer wieder, daß die Eigendynamik der baulichen Entwicklung stärker war als der politische Wille. Das gilt heute insbesondere für Slum-Siedlungen, deren nachträgliche Beseitigung politisch kaum noch durchzusetzen ist.

Im folgenden soll die Polarität zwischen europäischen und einheimischen Strukturen und deren Auswirkung auf die Stadtentwicklung während der verschiedenen Entwicklungsphasen dargestellt werden.

2.2.2. Kleinräumliche Polarität: Fort Süd und Fort Nord zwischen 1534 und 1863

Als die Portugiesen 1534 die Inseln von Bombay übernahmen, machten sie nicht die im Nordwesten gelegene Stadt Mahikavati zu ihrem Stützpunkt, sondern gründeten eine neue Siedlung im Südosten der Insel Bombay und bauten dort ein Kastell. Die Standortwahl hatte strategische Gründe. Die größere Entfernung vom Festland sollte das Risiko eines Angriffs von der Landseite her mindern und der direkte Zugang zum Wasser Fluchtwege offenhalten. Außerdem bot die Bucht östlich des Kastells einen günstigen Ankerplatz für die portugiesischen Schiffe. Viele Probleme, vor allem im Bereich des Verkehrs, die Bombay heute wegen der exzentrischen Lage seiner Innenstadt hat, rühren von dieser Entscheidung her.

Als die Engländer Bombay 1665 in Besitz nahmen, waren weder die Siedlung noch das Kastell besonders ausgebaut (Abb. 8, 9, 10, 11). Letzteres wurde ab 1668 von der East India Company verstärkt (vgl. Abb. 28). Im gleichen Jahr wurden ein Zollgebäude und ein Lagerhaus direkt neben dem Kastell gebaut. 1672 wurde von dem damaligen Gouverneur Gerald Aungier als erste Planungsvorgabe festgelegt, daß westlich des Kastells aus militärischen Gründen eine zentrale Grünfläche von Bebauung freigehalten werden sollte. Dieses sogenannte Bombay Green wurde zum Mittelpunkt der Stadt, die im Laufe der folgenden Jahre um das Kastell entstand. Einige öffentliche Gebäude und die erste anglikanische Kirche (St. Thomas Cathedral; Einweihung 1718) bildeten die Platzbegrenzung (Abb. 23 + 24). Das Bombay Green hat sich bis heute in der Form des Horniman Circle erhalten (Abb. 28, 29, 30, die kreisförmige Platzanlage in Zentrum).

Von Dezember 1715 bis Juni 1716 wurde die seit langem geplante Stadtmauer errichtet, und die bisher unbefestigte Siedlung wurde zum Fort. Drei Stadttore im Norden ('Bazar Gate'; Abb. 17), Westen ('Church Gate') und Süden ('Apollo Gate'; Abb. 12 und 16) bildeten den Zugang. Damit war die weitere Siedlungsentwicklung für ca. 30 Jahre, bevor man begann, auch außerhalb der Stadtmauern zu bauen, räumlich begrenzt. Nicht nur die Europäer, sondern auch die einheimischen Kaufleute hatten wegen des hohen Wertes der gelagerten Handelsware ein großes Sicherheitsbedürfnis und waren bis in das 19. Jahrhundert hinein nur schwer zu bewegen, auch außerhalb des Forts zu siedeln. Die einheimischen Kaufleute waren es sogar, die 1739 mit einer Stiftung von 30.000 Rupien den Bau eines Wassergrabens um die Stadt initiierten, der 1743 vollendet war (Abb. 25, 26, 27 u. 121). Mittlerweile wurde die Bebauung innerhalb des Forts eng. Zwischen europäischen und einheimischen Häusern hatte sich eine räumliche Differenzierung ergeben. Die größeren, meist weiß gestrichenen Häuser der Engländer standen eher im Südteil, die eng aneinandergebauten "asiatischen" Häuser der Einheimischen39 eher im Nordteil des Forts. Als die Bebauung im Nordteil (der sogenannten Black Town) immer dichter wurde und die unkontrollierten illegalen Bauten zahlenmäßig ständig zunahmen und in den Südteil zu drängen begannen, wurde die räumliche Trennung per Erlaß 1772 formalisiert. Demnach wurde es Einheimischen nicht mehr gestattet, südlich der Church Street Gebäude zu errichten (Abb. 30). Illegal entstandene Armenhütten in der Black Town wurden abgerissen. 1787 wurde ein Kommitee eingesetzt, daß Maßnahmen zur Eindämmung des Bauwildwuchses ergreifen sollte. Mehrere Vorschläge wurden gemacht, deren Ausführung längere Zeit in Anspruch genommen hätte. Durch den großen Brand von 1803, der 3/4 der Black Town (471 Häuser) zerstörte, schien sich das Problem von selbst zu lösen. Da die East India Company Eigentümer aller Grundstücke war, ging man daran, einen Plan mit völlig neuer Straßenanlage und neuer Grundstücksparzellierung zu machen. Die durch den Brand geschädigten Hausbesitzer und Kaufleute schlossen sich jedoch zusammen und leisteten gegen jede Form neuer Bebauung entschiedenen Widerstand. Selbst Entschädigungszahlungen und das Angebot von Subventionen zum Bau neuer Häuser außerhalb der Stadtmauern lehnten sie ab. Das einzige worauf man sich verständigen konnte, war eine geringfügige Verbreiterung der Straßen, indem man jede Parzelle etwas verkürzte.40 Diese Vorgänge sind beispielhaft dafür, wie die Planungen der Engländer hinter der realen Entwicklung zurückblieben und sich auch unter den besonderen Voraussetzungen, die sich nach der Zerstörung durch das Feuer boten, gegen die Einheimischen nicht mehr durchsetzen ließen. Bezeichnend ist auch, daß erst 1812 in der "Rule, Ordinance and Regulation for the Good Order and Civil Government of Bombay" die Behandlung illegaler Bauten gesetzlich geregelt wurde. In der "Regulation III" vom 4.11.1812 wurden erstmals die Baugrenzen und Baulinien innerhalb des Forts festgelegt. Die baulichen Strukturen, die sich zu der Zeit schon gebildet hatten, sind jedoch im wesentlichen bis heute erhalten geblieben. Die Abbildungen 28 bis 30 zeigen die heutige Bebauung des Forts mit den drei wesentlichen Strukturelementen: Kastell (Abb. 28), europäisch geprägte Bebauung (Abb. 29) und einheimisch geprägte Bebauung (Abb. 30). Das Kastell spielt im heutigen städtebaulichen Zusammenhang keine Rolle mehr, da es auf dem Gelände des Marinehafens steht und weder zugänglich noch sichtbar ist. Frappierend ist jedoch der Strukturunterschied zwischen der einheimisch und der europäisch geprägten Bebauung. Im Nordteil sind die Parzellen um ein Mehrfaches kleiner und die Straßen deutlich schmaler als im Südteil. Übergangsformen gibt es nicht! Auffallend ist zum Beispiel, wie die relativ breite Straße, die westlich des Horniman Circle in nord-südlicher Richtung verläuft (Saiyad Abdulla Brelvi Marg), an ihrem Nordende abrupt vor der kleinparzellierten Bebauung endet. Ursprünglich bestimmte die einheimisch geprägte Baustruktur die ganze Nordhälfte des Forts. Während der ökonomischen Hochphasen der 1860er Jahre und Anfang dieses Jahrhunderts wurde jedoch ein Teil dieses Gebietes von der westlich geprägten Baustruktur verdrängt. Inzwischen ist der ganze Rest der ehemaligen Black Town Sanierungsgebiet. Eine grundsätzliche Veränderung der baulichen Struktur ist auch bei Sanierungsmaßnahmen nicht zu erwarten.

2.2.3. Mittelräumliche Polarität: City und Basarzone ab 1746

Die Polarität zwischen dem europäischen Ordnungswillen und der einheimischen Wachstumsdynamik, die zunächst bei der Bebauung des Forts deutlich geworden war, verlagerte sich ab 1746. In diesem Jahr wurde eine grobe Landaufteilung für die Bauentwicklung außerhalb des Forts vorgenommen, und es wurden Hauptdurchfahrtswege festgelegt. Zwischen der südlichen Begrenzung der künftigen Bebauung und dem Fort blieb eine Sicherheitszone von ca. einem Kilometer Breite (Abb. 31). Diese Sicherheitszone war Teil der sogenannten Esplanade. Sie war eingeebnet, frei von Bepflanzung und Gebäuden und diente Verteidigungzwecken. Südlich und nördlich dieser Zone setzte nun eine räumlich getrennte Entwicklung ein. Im Norden entstand die neue Bebauung der sogenannten Basarzone oder 'Native Town'. Sie war ausschließlich für einheimische Siedler vorgesehen. Im Süden entwickelte sich - allerdings mit zeitlicher Verzögerung - das, was später zur City werden sollte. Dieses Gebiet war ausschließlich europäischer Planung vorbehalten. Damit waren die Einflußgebiete einheimischer Siedlungsentwicklung und europäischer Planung zwar räumlich abgegrenzt, aber die Polarität zwischen beiden war nicht aufgehoben, da die Engländer nach wie vor die politische und planerische Verantwortung für das Ganze zu tragen hatten.

2.2.3.1. Die Basarzone

Wie bereits festgestellt, wurden 1746 Hauptdurchfahrtswege nach Westen (Girgaum Road, heute Jagannath Shankarshet Road) und Norden (Kalbadevi Road und Parel Road, heute Ebrahim Rahimtulla Road) festgelegt (Abb. 32, Nebenkarte). Eine genauere Landaufteilung und die Anlage eines Straßennetzes wurden jedoch bis auf weiteres nicht vorgenommen, da sich das Land bereits in der Hand von Großgrundbesitzern befand. Damit war die Bedingung für die Herausbildung einer ganz eigenen Struktur in der Basarzone geschaffen. Abbildung 32 zeigt den Stadtbezirk 'C', den Kern der Basarzone, in seiner heutigen Form. Man erkennt, daß die Struktur der Bebauung ähnlich dicht und kleinteilig ist, wie im nördlichen Fort (vgl. Abb. 30) und daß Freiflächen, mit Ausnahme der Straßen, vollkommen fehlen. Weiter erkennt man, daß im südlichen Teil kein regelmäßiges Straßennetz vorhanden ist. Einzig die schon anfänglich vorgegebenen Hauptdurchfahrtswege Girgaum Road und Kalbadevi Road/Parel Road heben sich von dem übrigen Gassen- und Sackgassengewirr ab. Alte Flurgrenzen und das Verpachtungssystem der Großgrundbesitzer sind die Ursache für diese Struktur. In der Regel wurden zusammenhängende Flurstücke an eine Großfamilie oder eine Subkaste verpachtet, die die Parzellen wieder unter sich verteilten. Auf diese Art bildete sich die typische Struktur des 'Wadi'. "Ein Wadi besteht aus einer Anzahl planlos in den Raum gestellter Häuser (haufendorfartig), die um einen zentralen Platz gruppiert sind. Meist führt nur eine schmale gewundene Gasse nach außen, älteren Flurgrenzen folgend."41 Das so entstandene 'orientalische Sackgassenschema' ist im Erschließungssystem des Stadtbezirks 'C' (Abb. 33) gut zu erkennen.

Die fehlenden Bauvorschriften und die fehlenden Vorgaben von Baugrenzen führten auch in der Basarzone bald zu einer unkontrollierten Verdichtung. Vor der weiteren Ausdehnung nach Norden und Osten wurde deshalb von der englischen Verwaltung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (genaue Daten nicht bekannt) ein festes Straßenraster ausgewiesen. Auf den Abbildungen 33 und 43 läßt sich der Übergang von der organisch gewachsenen Zone zu den Bereichen mit vorgegebener Rasterung deutlich erkennen. Mit dieser Maßnahme wurde aber nur das Erschließungssystem, nicht jedoch das grundsätzliche Strukturprinzip kleiner Parzellierung und großer Verdichtung geändert. In der Phase schnellen Wachstums Mitte des 19. Jahrhunderts mahnt die Times of India eine systematische Vorgehensweise an: "In dem ganzen Bezirk zwischen dem Meer und Girgaum Back Road sind seit einigen Jahren aktive Bauunternehmungen in Gang, die besonders in den letzten zwei Jahren mit noch nicht dagewesenem Tempo vorangetrieben wurden. Häuser entstehen in allen Richtungen und was noch vor wenigen Jahren eine Kokosnußanpflanzung war, wird innerhalb der nächsten 50 Jahre so dicht bebaut sein wie Maudvi oder Khara Talao. Die Viertel Cavel und Sonapur, die über keinerlei Durchgangsstraße verfügen, sind warnendes Beispiel, wie die künftigen Bedingungen in der ganzen Gegend sein werden, wenn man sich nicht sofort zu einer systematischen Vorgehensweise entschließt."42 Noch drastischer äußert sich ein Gesundheitsbeamter 1872 über die Folgen der Überbevölkerung und das Fehlen eines Gesetzes zur Regulierung des Bauens und Wohnens. In einem Bericht über die einzelnen Viertel der Basarzone schreibt er, daß im Stadtteil Market die Sterberate als Folge der baulichen und sanitären Situation extrem hoch sei. In Mandvi würden die Häuser immer mehr in die Höhe gebaut wegen der teuren Grundstückspreise; alles sei übervölkert, die Straßen seien eng und die schlechten Abwasserrohre oft verstopft. Chakla sei voll von dunklen und schlecht durchlüfteten Milchviehställen. Der Besitzer von Naoroji Hill (ganz im Osten der Basarzone) lasse Leute ohne Planung und Anlage von Straßen Häuser bauen. Über das "unregelmäßige, schmutzige Labyrinth von Cavel" im Stadtteil Dhobi Talao schreibt er, Fahrzeuge könnten nur einige Meter eindringen und einer der Hauptzugänge gehe durch einen Weinladen an der Girgaum Road. Phanaswadi sei durchsetzt mit Sickergruben. Bhuleshwar enthielte "unbeschreiblich schmutzige Viertel" und Kumbharwada gelte "als ein beschämend vernachlässigter Stadtteil, wo die Bewohner in einer mit Schwefelwasserstoff verpesteten Luft schliefen". Khetwadi sei in kurzer Zeit mit Häusern überbaut worden, obwohl sich dort während des Monsuns das abfließende Wasser zu einem Teich von vier Fuß Tiefe sammle. Tardeo habe durch seine Textilfabriken so viele Menschen angezogen, daß es dringend erforderlich gewesen wäre, einen Bebauungsplan zu erstellen. Khara Talao schließlich sei so dicht überbaut, daß man in vielen Häusern bei Tage eine Lampe tragen müsse.43 Die schon an früherer Stelle erwähnten Maßnahmen des City Improvement Trust44 brachten Anfang dieses Jahrhunderts punktuell deutliche Verbesserungen. Die Tatsache aber, daß noch heute die Wohndichte im Stadtteil Bhuleshwar knapp 400.000 Einwohner/km² beträgt, macht deutlich, daß sich an den Verhältnissen nichts Grundsätzliches geändert hat. Auch die Basarzone ist ein Beispiel dafür, wie sich die Polarität zwischen organischem Wachstum und kontrollierender Planung zuungunsten der Planung auswirkte. Die meisten Planungsmaßnahmen waren entweder nicht effektiv oder bewirkten nur nachträgliche Schönheitskorrekturen. Wirklich durchsetzen ließ sich die Planung nur da, wo die Einheimischen als Gegenpol ausgeschlossen waren. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung der City.

2.2.3.2. Die City

'City' ist ein moderner Begriff und schließt das Fort, die Esplanade und das neugewonnene Land an der Back Bay und am Hafen (innerhalb des Stadtbezirks 'A') mit ein.

Die Besiedlung der Basarzone und die Erweiterung des Forts zur City erfolgte nicht gleichzeitig. Die Auslagerung einheimischer Bautätigkeit vom nördlichen Fort in die Basarzone hatte zunächst nur die Funktion eines Ventils, das den Siedlungsdruck innerhalb des Forts mindern sollte. Die zentralen Geschäfts- und Verwaltungsfunktionen bestanden jedoch innerhalb des Forts weiter. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts war das Expansionsbedürfnis der britischen Verwaltung so weit gewachsen und die politische Lage so weit konsolidiert, daß man eine Bebauung der Umgebung des Forts ins Auge faßte. Die Stadtbefestigung, die das Fort einengte und nur an drei Stellen durch ein jeweils doppeltes Tor Zugang gewährte, wurde jetzt als Hindernis empfunden. 1841 erschienen mehrere Presseartikel, die die Stadtmauer zu einem überflüssigen Ärgernis erklärten. Unter Gouverneur Lord Elphinstone machte man ab 1853 die ersten Versuche, einige ältere Teile der Umwallung abzubauen, und bis 1855 war das südliche Stadttor ('Apollo Gate') verschwunden. Der endgültige Abriß der Stadtbefestigung verzögerte sich jedoch noch, da sich die einheimischen Kaufleute aufgrund eines nach wie vor großen Sicherheitsbedürfnisses in einem Appell an die Regierung gegen die Zerstörung der Stadtmauer wehrten und auf anderes freies Bauland in Colaba, Girgaum und Dhobi Talao verwiesen. Erst der Befehl des nachfolgenden Gouverneurs Sir Bartle Frere zum Abriß der Befestigungen brachte die Entscheidung. 1863 wurde die Mauer abgebrochen und der Wassergraben eingeebnet (Abb. 34, 35, 36). Der Architekt James Trubshawe wurde mit der Generalplanung für die Erweiterung des Forts beauftragt. Ein Teil des freiwerdenden Geländes wurde in Grundstücke aufgeteilt und mit großem Gewinn an private Bauherren verkauft. Der Erlös diente der Finanzierung der öffentlichen Projekte. Dem Verlauf der ehemaligen Stadtmauer folgend wurden zunächst breite Straßen angelegt (Hornby Road und Rampart Road)45 und an vier Kreuzungspunkten jeweils zu Plätzen erweitert46 (Abb.37). Westlich der Rampart Road wurde eine Folge von großen öffentlichen Gebäuden errichtet,47 die ab 1878 auf der nördlichen Esplanade ihre Fortsetzung fand48 (Abb. 38). Ein Teil des freigewordenen Geländes (westlich der Hornby Road) wurde in Grundstücke aufgeteilt und mit großem Gewinn an private Bauherren verkauft. Mit dem Erlös des Verkaufs konnte ein großer Teil der öffentlichen Baumaßnahmen finanziert werden. Auf diesem Gelände entstanden hauptsächlich Banken, Großhandelshäuser, vornehme Privatschulen und Spitäler ( Abb. 39 [1] ). Einen ebenfalls guten Gewinn erbrachte die Parzellierung und der Verkauf eines Teils des Bombay Green im Zentrum des Fort. Unter der Leitung des Architekten James Scott49 entstand hier zwischen 1862 und 1866 eine geschlossene runde Platzanlage (Elphinstone Circle, jetzt Horniman Circle), die noch heute in dem eng bebauten Fort eine wohltuende Großzügigkeit und Urbanität ausstrahlt. (Abb. 37 [Plan] und 40 [Foto])50. 1872 war das Mody Bay Landgewinnungsprojekt ('Mody Bay Reclamation') abgeschlossen, so daß man ab ca. 1873 auch östlich des Forts Bauland aufteilen konnte. In strenger Rasterung entstanden hier hauptsächlich Bauten für Wohnzwecke und Kleingewerbe (Abb. 39 [2]). In unmittelbarer Fortsetzung dieses Quartiers wurde von der Hafenbehörde bis 1914 weiteres Bauland aufgeschüttet (Aushub des Alexandradocks), auf dem sich eine repräsentative, gut geplante Zone des 'Big Business' entwickelte, das sogenannte Ballard Estate. Schiffsagenturen, Import/Export-Firmen und Verwaltungszentralen ausländischer Konzerne haben hier ihren Sitz. Durch die breiten baumbestandenen Straßen und die "gediegene" Atmosphäre hat dieses Viertel einen ausgesprochen europäischen Charakter.

Die weitere Entwicklung der City vollzog sich zur Back Bay hin, jenseits eines Grüngürtels auf der Westseite der Esplanadenbebauung. Nach dem ersten Weltkrieg, vor allem gegen Ende der zwanziger Jahre, entstanden hier vier- bis fünfgeschossige Blocks mit Clubs, Hotels, Restaurants und Appartements für die obere Mittelklasse.

Inzwischen schreitet die Landgewinnung entlang der Back Bay in Richtung Südwesten fort. Das in den sechziger Jahren entstandene Bauland "Nariman Point" hat heute die teuersten Grundstückspreise Indiens. Wolkenkratzer für Industriemanagement, Luxushotels und staatliche Organisationen bestimmen hier die Bauentwicklung.51

Durch die ziemlich einmalige Situation, daß mit der kontinuierlichen Neulandgewinnung in unmittelbarer Zentrumsnähe Bauland immer wieder neu zur Verfügung stand, haben sich in der City von Bombay Bebauungsstrukturen aus fast allen Phasen der Entwicklung auf engem Raum nebeneinander erhalten: Kastell, Altstadtbebauung europäischer und orientalischer Prägung, Zonen monumentaler Repräsentationsbauten und kommerzieller Bebauung aus dem 19. Jahrhundert, ein großzügig geplantes Quartier mit Anklängen aus der Gartenstadtbewegung (Ballard Estate), "moderne" Stadtplanung der 20er und 30er Jahre an der Back Bay und schließlich Wolkenkratzer nach internationalem Schema. Im Gegensatz zur Entwicklung in vielen nordamerikanischen und europäischen Städten fällt in Bombay das noch bestehende Nebeneinander der verschiedenen Strukturen und der geringe Grad der Überlagerung und Durchdringung auf (vgl. Abb. 41). Eine Änderung dieser Strukturtrennung zeichnet sich jedoch ab. Die jeweils ca. 30-geschossigen Hochhäuser des Stock Exchange und der Reserve Bank mitten im Fort und des Overseas Communication Towers auf der Esplanade sind erste Anzeichen dafür.

2.2.4. Großräumliche Polarität: Hochhaussiedlungen und Slums im 20. Jahrhundert

Die Polarität zwischen geplanter Entwicklung und unkontrolliertem Wachstum, die zunächst innerhalb des Forts in unmittelbarem räumlichen Zusammenhang bestanden und sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts räumlich verlagert hatte, bestimmt auch die großräumliche Entwicklung im 20. Jahrhundert. Insbesondere der starke Bevölkerungszuwachs nach dem zweiten Weltkrieg und die Unmöglichkeit einer planerischen Kontrolle haben die Tendenz zu einer Polarisierung der Entwicklungsformen verstärkt. Allein die Tatsache, daß heute ca. 50 % aller Bewohner von Bombay (das heißt 5 Millionen Menschen in sogenannten 'hutment colonies' (Hüttensiedlungen = Slums) wohnen, zeigt die Dimension der informellen (im Gegensatz zur planerischen) Komponente. Aber es sind nicht nur Slums, die unkontrolliert entstehen, sondern es gibt bauliche Aktivitäten aller Art, von Aufstockungen, Um- und Anbauten bis hin zum Bau ganzer Hochhäuser, die ohne Wissen oder - wahrscheinlicher - ohne Eingreifen der Planungsbehörden geschehen und die die derzeitige Bauentwicklung in Bombay kennzeichnen.

Auf den Abbildungen 42, 43, 44, 45 wird die Siedlungsentwicklung der gesamten Insel Bombay noch einmal im Zusammenhang dargestellt. Man erkennt, daß (rein flächenmäßig) der größte Teil der Bebauung erst nach 1900 entstanden ist. Vergleicht man die früheren Pläne mit dem Plan von 1970, so lassen sich einige Zusammenhänge erkennen. Zum Beispiel stellt man fest, daß die Ausdehnung der Zonen größter Verdichtung (Fort, Basarzone, Abb. 45a [1],[2] ) und der weniger dichten Zonen mit ausschließlicher Wohnnutzung (Malabar Hill, Mahim [3],[4] ) ziemlich exakt mit der Lage der sieben ursprünglichen Inseln (Abb. 42) übereinstimmt. Die Fläche der früheren Lagune im Zentrum [5] wird fast ausschließlich von Textilfabriken mit den dazugehörigen Mietskasernen für die Arbeiter ('chawls') bedeckt. Die Ursache dafür liegt in der Minderwertigkeit des Geländes im Bereich der ehemaligen Lagune. Die Trockenlegung dieses Teils der Insel erfolgte im wesentlichen durch Abdeichung und nicht durch Aufschüttung. Das Gelände liegt somit größtenteils unter Meeresniveau und wird während des Monsuns überflutet. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum ein größeres Areal westlich der Inselmitte [6], das auf der Karte von 1812-16 (Abb. 43) noch als überflutetes Gebiet (mit einstrichlierter Abdeichung) gekennzeichnet war, bis heute praktisch unbesiedelt blieb. Es befindet sich zur Zeit eine Pferderennbahn, ein Stadion und ein Clubgebäude darauf.

Insgesamt fällt zwischen den Entwicklungsstadien die stetige Flächenvergrößerung auf. Zwischen 1900 und 1970 fand diese hauptsächlich an der Südspitze im Bereich von Colaba [7] und an der Ostküste [8] statt. Die Flächenzunahme betrug in diesem Zeitraum 12 km² (Gesamtfläche der Insel Bombay zur Zeit 70 km²). Die neu gewonnenen Flächen stellen wesentliche Zonen der (geplanten) Entwicklung im 20. Jahrhundert dar. Den größten Anteil daran hat die Hafenzone auf der Ostseite der Insel. Durch Anbaggerung vom Hafenbecken konnte hier Material für die Aufschüttung von neuem Gelände gewonnen werden. Es entstanden große Gleisanlagen, Verladeeinrichtungen und Lagerhallen. "Der Bombay Port Trust ist der größte Grundeigentümer auf der Insel. Seine Grundstücke umfassen etwa 760 ha, rund 1/8 der Fläche von Bombay Island. Etwa 450 ha sind seit 1879 durch Neulandgewinnung hinzugekommen."52 Die Landaufschüttung auf der Westseite von Colaba ist immer noch im Gang, kommt aber nur mit mäßigem Tempo voran, da alles Füllmaterial aus größerer Entfernung herangeschafft werden muß. Hier entstehen fast ausschließlich Hochhaussiedlungen von ziemlich monotonem Charakter (Abb. 46).

Auf dem Plan von 1970 fällt ein Gebiet im Zentrum des Nordteils auf, das sich durch Planmäßigkeit der Anlage und durch die Struktur der Bebauung von anderen Gebieten abhebt (Abb. 45 a, [9]). Es handelt sich hierbei um die Wohnsiedlung Matunga, nach NISSEL ein gelungener Modellfall städtischer Planung und das "Glanzstück der Leistungen des City Improvement Trust".53 "In einem Rasterschema liegen die Wohnblocks in ruhigen Nebenstraßen, abseits von lärmenden Verkehrsadern, mit einer Reihe von Parks und Spielplätzen. Strenge Bauvorschriften verhinderten die Festsetzung von kommerziellen Funktionen (natürlich auch der Industrie). Alle wichtigeren Straßenzüge sind von Alleen bestimmt, was Matunga zum Beinamen 'Garden City' verholfen hat. Tatsächlich gibt es keinen vergleichbaren Stadtteil."54 Die Siedlung entstand um 1920 und wird von Hindus und Parsen der oberen Mittelschicht bewohnt (Abb. 47).

Matunga und die Zonen der Neulandgewinnung sind Beispiele der neueren Stadtentwicklung, bei denen die Planung die Oberhand behalten hat. Das Gegenteil ist der Fall bei solchen Flächen, deren Bebauungsplan weniger rigoros durchgesetzt wurde, oder bei kleineren unverplanten Restflächen. Hier setzte vor allem nach dem zweiten Weltkrieg eine unkontrollierte Besiedlung ein, die jede Planung überholte. Obwohl sich der größte Teil dieser Entwicklung auf der Insel Salsette vollzieht, gibt es auch auf der Insel Bombay eindrucksvolle Beispiele. Herauszuheben wäre vor allen Dingen die Siedlung Dharavi im Norden der Insel (Abb.45a, [10]). Auf dem Plan des Bombay City Survey von 1970 kommt der Kontrast zwischen Planung und tatsächlicher Entwicklung gut zum Ausdruck. Es ist der erste mir bekannte offizielle Plan, auf dem eine ungeplante (d.h. "wilde") Siedlung insoweit institutionalisiert wird, als deren Existenz auf einem öffentlichen Stadtplan sichtbar wird. Abbildung 48 zeigt die Siedlung Dharavi (schwarz) und darunter in strichlierter Zeichnung die eigentliche Planung für das Gebiet. 1970 hatte Dharavi ca. 25.000 Einwohner.55 Inzwischen ist das gesamte Areal mit Bretterhütten bebaut und wird von mehreren hunderttausend Menschen bewohnt. Dharavi hat damit die zweifelhafte Ehre, der größte Slum Asiens zu sein. Die offizielle Planung, die hier nicht mehr im voraus festlegen sondern nur noch im nachhinein einwirken kann, hat zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze, mit Hüttensiedlungen umzugehen: radikale Einplanierung oder schrittweise Verbesserung. Vor allem in den siebziger Jahren ist Bombay durch die brutale Räumung und Planierung einiger Slum-Kolonien in die internationalen Schlagzeilen geraten.56 Obwohl die Einplanierungen heute noch nicht grundsätzlich vom Tisch sind, hat man sich seither verstärkt um Slum-Verbesserungsmaßnahmen ('Slum upgrading') bemüht. Dazu gehören z. B. die Anlage von Straßen mit elektrischer Beleuchtung und Stromanschlüssen, die Versorgung mit Wasserleitungen und der Bau von Toilettenblocks.57 Beide Ansätze tragen jedoch nichts zur Lösung der Probleme bei, und solange der enorme Bevölkerungszuwachs nicht eingeschränkt werden kann, werden auch längerfristig keine Lösungen in Sicht sein.

2.3. ENTWICKLUNG DER ARCHITEKTUR

2.3.1. Allgemeine Entwicklung: Wohn- und Geschäftshäuser

Drei Hauptfaktoren bestimmen die Entwicklung der Architektur in Bombay: ein übergeordneter funktionaler Faktor (das Klima) und zwei formale Faktoren (die einheimische handwerkliche Bautradition, vornehmlich aus Gujarat, und die importierten europäischen Stilvorstellungen). Der Charakter der Gebäude hat sich in Bombay während der 450 Jahre europäischer Besiedlung stark gewandelt, und bis zum Beginn der Moderne und des 'International Style', d.h. bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts, war es zu einer zunehmenden Verschmelzung und gegenseitigen Integration der drei genannten Faktoren gekommen. Aus portugiesischer Zeit hat sich außer zwei Kirchen (Mahim, San Miguel, 1534 [Abb. 49] und Dadar, Nossa Senhora de Salvagao, 1596) nichts erhalten. Die Portugiesen scheinen sich vielmehr örtlichen Baugewohnheiten angepaßt zu haben, denn John Fryer beschrieb die Häuser in Bombay 1675 als "niedrig und mit den Ölblättern des Kokosnußbaumes gedeckt, die meisten von den Portugiesen hinterlassen, einige wenige von der East India Company erbaut. Das Zollhaus und das Lagerhaus haben Ziegeldächer und sind verputzt; anstelle von Glas haben sie Scheiben aus Austernschalen als Fenster."58 Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb Maria Graham: "Die Wohnhäuser der reichen Einheimischen sind von Veranden umgeben, die man gleichermaßen als Schutz gegen die übermäßige Hitze der Sonne wie gegen die Monsunregen benötigt. Sie sind im allgemeinen mit Blumen und Blättern von grüner und roter Farbe bemalt; an den Häusern der Hindus sind gewöhnlich Sagen der Mythologie auf den Wänden dargestellt. Die Häuser müssen notwendigerweise von großer Ausdehnung sein, denn wenn ein Mann zwanzig Söhne hat, bleiben sie alle unter dem gleichen Dach wohnen, selbst wenn sie verheiratet sind. Die unteren Klassen begnügen sich mit kleinen Hütten, meist aus Lehm und mit geflochtenen Kokosnußmatten bedeckt. Einige dieser Hütten sind so klein, daß sie nur einem einzigen Menschen Sitzgelegenheit bieten und daß sie kaum seine Füße überdachen, wenn er sich hinlegt."59 Die genannten Veranden sind das Markenzeichen der Wohnarchitektur in Bombay schlechthin. In anderen indischen Städten findet man sie nicht in dem Umfang.60 Das Wort 'Veranda'stammt wahrscheinlich aus dem indischen Sprachbereich ('varanda') und ist über das Portugiesische in Europa eingeführt worden.61 Auch der anglikanische Bischof Heber beschreibt 1824 die Veranden an Gebäuden im Fort: "Die Häuser sind groß, anmutig und im allgemeinen drei oder vier Geschosse hoch mit hölzernen Veranden, die von jeweils übereinanderstehenden Holzstützen getragen werden. Die Stützen und die Balustraden der Veranden sind schön geschnitzt."62 Die Tradition der holzgeschnitzten Fassadenelemente stammt aus dem nördlichen Nachbarstaat Gujarat, aus dem viele der Kaufleute in Bombay stammten (vgl. Abb. 50 und 51). Festzuhalten bleibt, daß die Veranda vor allem des Klimas wegen zu einem herausragenden Architekturelement wurde, da sie vor Sonne und Regen schützt und gleichzeitig erlaubt, den Luftdurchzug bei ständig geöffneten Fenstern und Türen aufrechtzuerhalten. Ein anderes Architekturelement mit ähnlichen Funtionen, das ebenfalls speziell in Bombay beheimatet ist, ist das sogenannte 'jhilmil', eine Art Fensterüberdachung mit seitlichen Blenden, die oft auch nachträglich an Fassaden angebracht wurde63 (Abb. 52).

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren die meisten Häuser in Holzständerbauweise errichtet und nicht höher als zwei Geschosse. Das bevorzugte Baumaterial war Teakholz von der Malabar-Küste und aus Birma. Die Häuser der Einheimischen waren sehr viel enger aneinander gebaut als die der Europäer. Mit zunehmender Baulandverknappung begann man, die Gebäude aufzustocken und in die Höhe zu bauen (vgl. Anhang, Nr.5). "Die Unsicherheit dieser Konstruktionen hatte in den zehn Jahren bis 1862 eine große Zahl von Unglücksfällen zur Folge, die auch durch die Einführung von Baugesetzen nicht völlig verhütet werden konnten. Im Anschluß an den Baumwollboom der 186Oer Jahre begann das Bombayer Haus des alten Stils aufgrund der ständig steigenden Nachfrage nach Wohnraum zu verschwinden, und ortsansässige Kapitalisten und Baufirmen begannen Häuser zu errichten, die in eine Vielzahl von Wohneinheiten unterteilt waren, ohne dabei auf Belichtung und Belüftung Rücksicht zu nehmen."64 Es entstand der Bautyp des sogenannten 'chawl', einer Art Mietskaserne, in der eine große Zahl von Einraumwohnungen an langen Fluren oder Laubengängen aufgereiht sind, mit einem Gemeinschaftswasseransschluß und gemeinsamen Latrinen am Ende des Ganges. Dieser Bautyp bestimmt bis heute einen wesentlichen Teil der Bausubstanz in der Basarzone und in den Arbeiterwohnquartieren um die Textilfabriken. Die Abbildungen 53, 54, 55, 56 zeigen ein Beispiel aus der Basarzone, Abbildung 57 ein Beispiel aus einer Textilarbeitersiedlung. Das erste Beispiel (Maru Bhuvan) hat einen U-förmigen Grundriß mit einem 3,15 Meter breiten Innenhof und umlaufender Laubengangerschließung. Pro Flügel sind 10 Einraumwohnungen à 18,5 m² und zwei Latrinen angeordnet. Die durchschnittliche Belegung pro Wohneinheit beträgt zur Zeit 6 - 8 Personen. Insgesamt wohnen ca. 600 Personen in dem Gebäude.65 Das zweite Beispiel zeigt Textilarbeiter-Chawls, die vom City Improvement Trust um 1910 errichtet wurden und sich durch eine sehr viel großzügigere Bemessung des Freiraums auszeichnen, als dies bei ausschließlich rendite-orientierten Chawls üblich war.

Das Volkszählungsergebnis von 1901 macht einige interessante Angaben über die Zahl und die Belegung von Häusern in Bombay. Von insgesamt 38 843 gezählten Häusern waren 30.125 bewohnt, 3.505 gehörten zur Kategorie 'chawl'.66 2.530 Gebäude hatten 21 und mehr Wohneinheiten, davon 241 zwischen 51 und 100 und 19 über 100 Wohneinheiten. 105.137 Einwohner wohnten in Einraumwohnungen mit einer Belegung von 10 und mehr Personen, davon 20.722 zu 20 und mehr Personen in einem Raum. Über die Wohnsituation der Arbeiterklasse in den zwanziger Jahren berichtet S.C. Joshi, daß es die Arbeiter aus ökonomischer Notwendigkeit vorziehen, "in dunklen Räumen in alten verfallenen Gebäuden zu wohnen, praktisch ohne Belüftung und sanitäre Anlagen. Die Kanalisation bewirkt nicht das Notwendige. Wasserlachen findet man rings um die Chawls. Durchgänge sind oft voll mit Abfall und ein übler Geruch ist allgegenwärtig. Die Passagen sind eng. Ein offener Abfluß in der Mitte ist der Ort, wo Wäsche und Geschirr gewaschen werden." Im weiteren zitiert er ein Memorandum der Regierung von ombay an eine königliche Kommission: "70 % der Wohnungen in Bombay sind Einraumwohnungen. (...) Diese Wohnungen findet man in einfacher oder doppelter Reihe in Gebäuden angeordnet, die man hier als Chawls bezeichnet. Die durchschnittliche Raumgröße beträgt 9,62 m², das sind 2,3 m² pro Person. Die Räume sind gewöhnlich 2,40 m bis 3,00 m hoch." Es folgt noch ein Zitat einer Ärztin von 1922: "Ich fand, daß in einem Raum im zweiten Obergeschoß eines Chawls, der ungefähr 4 ½ Meter mal 3 ½ Meter groß war, sechs Familien wohnten. Sechs getrennte Feuerstellen auf dem Fußboden bewiesen diese Feststellung. Auf Nachfragen erfuhr ich, daß die tatsächliche Zahl der Erwachsenen und Kinder, die in diesem Raum lebten, 30 war."67 Man wird bei solchen Berichten an die Verhältnisse zur Zeit der Industrialisierung in England erinnert und assoziiert damit längst überwundene Historie. Wie jedoch noch gezeigt werden soll, hat sich in Bombay an diesen Zuständen bis heute wenig verändert.

2.3.2. Öffentliche Gebäude

Die ersten öffentlichen Gebäude, die von der East India Company 1668 errichtet wurden, waren ein Zollhaus und ein Lagergebäude. Mit dieser bautypologischen Priorität kommt zugleich die vorwiegend ökonomische Ausrichtung der East India Company zum Ausdruck, ebenso wie sich die missionarische Zielrichtung der Portugiesen in der fast ausschließlichen Hinterlassenschaft von Kirchen im Norden der Insel Bombay manifestiert hatte. Die erste anglikanische Kirche wurde erst ein halbes Jahrhundert später, im Dezember 1718, geweiht. Zuvor waren noch weitere Warenlager, größere Ställe und ein kleineres Krankenhaus errichtet worden.68 Der Bau der anglikanischen Kirche (St. James, später in St. Thomas umbenannt) war deshalb so lange hinausgezögert worden, weil die Spenden in Höhe von 50.000 Rupien, die schon 30 Jahre zuvor für die Errichtung gesammelt worden waren, angeblich von dem Kaplan veruntreut wurden. So dauerte es bis 1715, bevor der Grundstein gelegt wurde. Richard Cobbe, der für die Planung verantwortlich war, veröffentlichte 1766 eine Beschreibung der Kirche: "Die Kirche ist in der Tat ein Bauwerk, das zu Recht wegen seiner Kraft und Schönheit, Klarheit und Geschlossenheit, besonders aber wegen seiner Akustik bewundert wird. Die Decke ist mit drei Längstonnen aus Stein überwölbt, die auf jeder Seite von je einer Reihe von Säulen und Pilastern getragen werden. Auf der Ostseite ist eine Apsis mit einer großen Halbkuppel, um den Altar aufzunehmen, wie bei St. Paul's in London um drei Stufen erhöht und durch ein Geländer vom Mittelschiff getrennt. ( ... ) In ihrer Ausdehnung ist sie [die Kirche] größer als die englischen Kirchen in Madras und Bengalen oder die portugiesischen Kirchen in Bombay."69 (Abb. 58). Die heutige St. Thomas' Cathedral ist neben dem Kastell das älteste noch erhaltene Gebäude innerhalb des Forts. Sie wurde 1863 - 65 im Chorbereich erweitert.

Von Sir Charles Forbes, dem Begründer einer unabhängigen Handelsfirma, werden 1775 folgende öffentliche Gebäude aufgezählt: das Government House, das Zollamt, das Marinehaus, mehrere Kasernen, eine Münze, ein Schatzamt, ein Theater, ein Gefängnis und drei Krankenhäuser. Zu ihrer Architektur bemerkt er, sie sei eher nützlich als elegant. Tatsächlich entstehen auch in den folgenden Jahrzehnten nur wenige öffentliche Bauten von architektonischer Bedeutung. Während in Calcutta und Madras Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts längst riesige öffentliche Bauvorhaben klassizistischer und palladianischer Prägung von Architekten wie Thomas Lyon und Charles Wyatt verwirklicht werden (vgl. DAVIES, S.47 ff.), bleibt die Bautätigkeit in Bombay noch für Jahrzehnte durch die die räumliche Einschränkung der Stadtbefestigung auf ein Minimum begrenzt. Die einzige Ausnahme bilden zwei Gebäude auf der Ostseite des bisher unbebauten Bombay Green im Zentrum des Forts. Zwischen 1821 und 1833 entsteht hier die Town Hall, eine öffentliche Versammlungshalle, nach einem Entwurf von Thomas Cowper (Abb. 60). Fast gleichzeitig, zwischen 1824 und 1829, wird unmittelbar dahinter auf neuaufgeschüttetem Land von John Hawkins die neue Münze erbaut (Abb. 59). Beides sind breit gelagerte Bauten von symmetrischer Anlage. Jeweils in der Mitte der Westfassade ist ein Portikus angeordnet, bei der Town Hall auch auf der Nord- und Südseite. Nach Fertigstellung der Town Hall gibt es 30 Jahre lang keine öffentliche Bautätigkeit mehr. In den Jahren nach 1860 lösen dann jedoch mehrere Ereignisse und Faktoren eine umso intensivere Planungs- und Bautätigkeit aus. Wichtigstes Ereignis ist der Abriß der Stadtbefestigung 1863, durch welches das Gelände für eine Erweiterung der Innenstadt verfügbar wird. Ebenso wichtig ist der wirtschaftliche Aufschwung während des Baumwollbooms, der große Geldmengen nach Bombay und einen Teil davon auch in die öffentlichen Kassen fließen läßt. Damit verbunden ist eine Ausdehnung der Aufgaben der städtischen und staatlichen Verwaltung und eine Steigerung des Raumbedarfs. Bis zur Entstehung neuer Verwaltungsbauten waren die Behörden in engsten räumlichen Verhältnissen innerhalb des Forts untergebracht. Nicht zuletzt ist die zielstrebige Planung und das energische Durchsetzen der Vorhaben durch den Gouverneur Sir Bartle Frere, vor allem gegen die Vorbehalte der englischen Zentralregierung in Calcutta, ein maßgeblicher Faktor für die nachfolgende bauliche Entwicklung in Bombay. Nach der Meinung von Frere habe es unter der Regierung der East India Company in den Siedlungen Britisch Indiens an einer fortgeschrittenen Zivilisation gemangelt und architektonischer Geschmack sei fast unbekannt gewesen. Deshalb sei jetzt die Gelegenheit da, in Bombay eine Serie von Bauten zu errichten, die dem Wohlstand, der Größe und der geographischen Lage der Stadt entsprechen würden. Die Entwürfe sollten höchsten architektonischen Charakter besitzen und deshalb von Architekten aus England ausgeführt werden. Angemessene Überlegungen sollten wegen der künstlerischen Wirkung angestellt werden. 70

Um 1860 hatte die neugotische Variante des Historismus in England ihren Höhepunkt erreicht. Pugin, Ruskin und Scott hatten damals die universelle Verwendbarkeit dieses Stils propagiert, da er "praktisch, flexibel und für alle Bauaufgaben geeignet sei".71 Die Folge war eine "Invasion" neo-gotischer Bauwerke in Britisch Indien. In Bombay waren verschiedenfarbige Natursteine - blauer Coorla-Basalt, brauner Porebunder und roter Bassein-Sandstein - leicht verfügbar und boten günstige Voraussetzungen für die Verwirklichung einer "ehrlichen" Architektur, wie sie die Neugotiker forderten. Einer der bedeutendsten englischen Architekten der damaligen Zeit, der für eine Bauaufgabe in Bombay gewonnen wurde, war Sir Gilbert Scott. Er entwarf die Universitätsbibliothek (1878 vollendet) und das Universitätsauditorium (1874 vollendet). Beide Gebäude wurden mit Stilelementen der venezianischen Gotik gestaltet (Abb. 61) und bilden einen Teil der Reihe öffentlicher Gebäude auf der Esplanade (vgl. Abb. 38). Die ganze Reihe entstand etwa zur gleichen Zeit und stellt eines der eindrucksvollsten Ensembles der Neugotik im britschen Empire dar (Abb. 62, 63, 64, 65). Weitere Beispiele dieser Bauphase findet man im Esplanadenbereich nördlich des Forts und im Stadtteil Byculla. Zur Jahrhundertwende hin beginnt auch in Bombay die Neugotik einem zunehmenden Eklektizismus zu weichen. Zu den gotischen Formen treten vor allem Elemente der indischen Architektursprache. Der herausragende Architekt in der Zeit zwischen 1885 und 1900 ist der in Bath geborene Frederick William Stevens (1848 - 1900). Von ihm stammen der Victoria Terminus (1888; Abb. 66), das Rathaus (Municipal Corporation Building, 1893; Abb.67), das B.B. & C.I. Railways Office (1899; Abb. 68) und andere. Vor allem der Victoria Bahnhof wird in der Literatur als das Baudenkmal von Bombay schlechthin bezeichnet.72 Auch am Anfang dieses Jahrhunderts entstehen in Bombay noch einige Monumentalbauten, die vom Geist des 19. Jahrhunderts geprägt sind. Genannt seien das Taj Mahal Hotel von W. Chambers (1903), das neue General Post Office von John Begg (1909) und das Prince of Wales Museum of Western India von George Wittet (1914). Vor allem die beiden Letztgenannten weisen einen hohen Durchdringungsgrad europäischer und indischer Stilformen auf. Die Schwierigkeit, diese Form des Eklektizismus mit Worten zu benennen, führte zur Schöpfung zahlreicher neuer Stilbegriffe wie 'mauro-gotisch', 'indo-sarazenisch' oder 'indo-islamisch'. Mit dem Prince of Wales Museum ist die große Serie öffentlicher Bauten aus der Phase des Historismus und Eklektizismus abgeschlossen. Neuere Verwaltungsbauten, wie sie vor allem nach dem zweiten Weltkrieg in verschiedenen Teilen der Stadt entstanden, konnten weder an die Originalität noch an den Gestaltungswillen der öffentlichen Bauten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen.